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»Eigentlich fühle ich mich erst wie 70«

»RAO«Êüber die Stunde Null: Zum Jammern war keine Zeit -ÊÜber Heute: Wir sind zu anspruchsvoll

Von Bernhard Hertlein
und Manfred Matheisen
Bielefeld (WB). Wie fühlt man sich kurz vor seinem 90. Geburtstag? Rudolf August Oetker zögert: »So alt soll ich schon sein?« Eigentlich fühle er sich doch erst wie 70, sagt er und schmunzelt. Sicher, das Tennisspielen habe er vor 15 Jahren aufgegeben. Aber sonst? Am kommenden Mittwoch vollendet er sein 90. Lebensjahr.
Mit Backpulver -Êhier eine Werbung aus den Zwanzigern - fing es an.

Kann einer aufhören, Unternehmer zu sein? »RAO«, wie er von Freunden nach den Anfangsbuchstaben seines Namens genannt wird, hat das Kommando über die breit aufgestellte Bielefelder Unternehmensgruppe schon Anfang der achtziger Jahre abgegeben. Er hat den Nachlass - wichtig für ein Familienunternehmen - vorbildlich geregelt. Doch informieren lässt er sich nach wie vor ein Mal monatlich über alle Bereiche, über Umsätze und Erträge, über Chancen und Probleme. »2005 war ein gutes Jahr«, erklärt er. Besonders die Schifffahrt stand unter Dampf. Leider habe sich das 2006 nicht fortgesetzt. Die hohen Energiekosten, der Preisdruck. . .
Man hat den Eindruck, RAO könnte so noch stundenlang über die Lage im Unternehmen berichten. Oder über die Lage Deutschlands: »Wir sind zu anspruchsvoll geworden, zu unbeweglich. Keiner will auf etwas verzichten.« Das sei verständlich. Aber ohne dass hier beispielsweise wieder länger gearbeitet werde, könne Deutschland die Wende niemals schaffen.
Damals sei das anderes gewesen. »Damals«, das war nach dem Zweiten Weltkrieg. Das waren die fünfziger und sechziger Jahre. Über die Zeit davor spricht Rudolf August Oetker nicht so gern. Nicht über den Ersten Weltkrieg, in dem der leibliche Vater vor Verdun fiel, als die Mutter mit ihm schwanger war. Nicht über die Nazi-Zeit und den Zweiten Weltkrieg, in dem der von ihm sehr verehrte »zweite Vater« Richard Kaselowsky, seine Mutter und zwei Stiefschwestern bei den Bombenangriffen auf Bielefeld ums Leben kamen. Oetker selbst kam wie so viele andere verwundet aus Russland zurück.
Doch das alles zählte in der Stunde Null nicht. Jeder war froh, wenn er etwas ergattert hatte. Ein halbes Pfund Butter, vielleicht. Oder ein paar Zigarren. Wegen der vielen Flüchtlinge musste man zusammenrücken. Doch das schweißte nur noch mehr zusammen: »Wir wussten, wir müssen das zerstörte Land wieder aufbauen. Und wir wussten, wir werden es schaffen.«
Für den Wiederaufbau des Unternehmens brauchte Oetker Kapital. Er erhielt es, in dem er große Firmenbeteiligungen etwa an Knorr, an Stollwerk und an Hoffmanns Stärke verkaufte. Der Rest war Arbeit: »Zum Jammern hatten wir keine Zeit.« Im Bielefelder Rathaus regierte zwar die SPD: »Doch das waren Leute, die wussten, was zu tun war.« Gab es im Unternehmen mal Unruhe, wurde das Problem mit dem Betriebsrat gemeinsam gelöst. Eine Szene aus dem Jahr 1956 blieb RAO besonders in Erinnerung. Schmunzelnd berichtet er, wie die Arbeitnehmervertretung zu ihm kam: »Herr Oetker, wir müssen heute streiken.« Es war ein politischer Streik - gegen die Wiederbewaffnung der jungen Bundesrepublik. Man einigte sich auf eine Stunde.
Das Verhältnis zu den Arbeitnehmern ist in einem Familienunternehmen ganz anders als in einer anonymen AG. Weihnachts- und andere Betriebsfeiern, Pensionärstreffen: Diese Termine haben für die Geschäftsführung und für Rudolf August Oetker persönlich mindestens die gleiche Bedeutung wie Gesellschafterversammlungen.
RAO hat von 1941, als er in die Oetker-Geschäftsführung einstieg, bis 1981 das von seinem Großvater gegründete Unternehmen in starkem Maße ausgebaut. Zu Back- und Puddingpulver gesellten sich immer mehr Fertiggerichte (Kuchenmischungen, Milchprodukte, Pizza), mehr Brauereien (Binding, DAB, heute auch Radeberger, Jever), Schiffe (Hamburg Süd), das Bankhaus Lampe, Hotels (zum Beispiel Brenners Parkhotel in Baden-Baden), Sekt (Henkell & Söhnlein), Wodka (Gorbatschow) und Selters. »Man soll nie alle Eier in einen Korb legen«, sagt Oetker. Hat man viele Körbe, dann kann einer in einer Krisensituation auch schon ein Mal auf den Boden fallen, ohne dass alle Eier zerbrechen. Die moderne Management-Theorie hat für diese Strategie ein Fremdwort: Diversifikation.
Ein anderes, heute sehr modernes Unternehmensziel, die Firmenkultur, wird bei Oetkers seit 115 Jahren gelebt. »Als wir nach der Wende in Osteuropa in Oliva bei Danzig, in Maribor in Ungarn und in einigen anderen Städten ehemals enteignete Werke der Familie zurückkauften, waren wir erstaunt, dass diese Firmenkultur meistenteils sogar vier Jahrzehnte Sozialismus überdauert hatte«, sagt Maja Oetker geborene von Malaisé. Sie ist in dritter Ehe mit Rudolf August verheiratet. Maja Oetker beschreibt ihren Mann als klug und bodenständig, als liebenswerten ewigen Optimisten, der »auch mal bockig sein kann«. RAO selbst hält sich zugute, dass er aus Fehlern immer rechtzeitig gelernt hat. So kann er heute beispielsweise über den Plan, in Alaska eine Großbrauerei zu bauen, gelassen schmunzeln: »Bevor die Sache wirklich viel Geld gekostet hätte, haben wir rechtzeitig die Reißleine gezogen.«
Rudolf August Oetker hat fünf Söhne, drei Töchter, 18 Enkel und neun Urenkel. Der älteste Sohn August Oetker feiert am 17. März 2009 auch schon seinen 65. Geburtstag. Nachfolger wird vermutlich sein Halbbruder Alfred Oetker. »Der kann das auch«, erklärt RAO. »Da bin ich mir sicher.«
Die Weichen für die Zukunft des Unternehmens sind also gestellt. Einer, der 90 wird, aber sich erst wie 70 fühlt, denkt trotzdem schon ein Mal auch an den Tod: »Das Liebste wäre mir, er käme über Nacht, so dass ich es nicht merkte. Am Morgen«, sagt er, »würde ich einfach nicht mehr aufwachen.«

Artikel vom 15.09.2006