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Die Geschichte
eines kleinen
Seelentrösters
Vor 50 Jahren kam der Schnuller erst richtig in Form
Schrilles Geschrei, ein hochroter Babykopf, eine Mutter, die verzweifelt versucht, den strafenden Blicken ihrer Mitmenschen auszuweichen. Die junge Frau kramt gestresst in ihrer Handtasche, dann im Babytäschen. Wo steckt nur der rettende Nuckel des Sohnemanns?
Dann ist der Trostspender gefunden und bringt, geschickt und schnell im Mündchen platziert, erholsame Ruhe. Alles atmet auf, während der Jüngste, jetzt wieder Mamas ganzer Stolz, seinem natürlichen Bedürfnis nachgeht und nuckelt, was das Zeug hält.
Wer jedoch glaubt, der Schnuller sei ausschließlich eine Errungenschaft der Moderne und Oma hätte mit ihrem Daumen Vorlieb nehmen müssen, der irrt. In diesem Jahr feiert die bekannte Marke NUK (»Natürlich Und Kiefergerecht«) ihren fünfzigsten Geburtstag. Fast 50 Millionen Kinder kamen in Deutschland seit 1956 auf die Welt und viele von ihnen hat das niedersächsische Unternehmen mit seinen Produkten in den ersten Jahren begleitet.
Die Geschichte des Beruhigungssaugers beginnt aber viel früher und ist fast so lang wie die Geschichte der Menschheit selbst. Vermutlich haben schon vor Jahrtausenden Mütter ihren kleinen Schreihälsen in süße Flüssigkeit getunkte Stofflappen in den Mund gesteckt, um einen Augenblick der Ruhe erhaschen zu können - zur Entspannung oder um frei zu sein für die vielen anderen Pflichten, die so ein kleiner Erdenbürger und eine Familie mit sich bringen.
Für die Antike ist belegt, dass Kinder zur Beruhigung an in Honig getunkten Schwämmchen saugten. Auch im Mittelalter empfiehlt ein Buch über Kinderkrankheiten eine ähnliche Methode: »Ein Gemisch aus geriebenem Brot solle man mit Zucker vermengen und in ein sauberes Stück Leinwand wickeln. Dieses gebe man dem Kind, damit es nach Herzenslust dran zuckeln könne.«
Was heute bei jedem Zahnarzt Entsetzen auslösen würde, war damals gängige Praxis. Erst seit dem 17./18. Jahrhundert gerät der »Lutschbeutel« in die Kritik, denn die zuckerhaltigen Füllungen führten bei den ersten Zähnchen nicht nur schnell zu Karies, sondern boten auch einen Nährboden für Bakterien. Die Folge waren Vergiftungen, die viele Kleinkinder das Leben kosteten.
Um die Liebsten nicht zu gefährden und trotzdem den manchmal nervenaufreibenden Schreiattacken entgegenwirken zu können, war es besonders in Schlesien Sitte, den Lutschbeutel zusätzlich in Branntwein zu tauchen. Damit wurde er zwar steril, allerdings waren die Babys auch oft über Stunden alkoholisiert.
Für den Schnuller, wie wir ihn heute kennen, war als erstes die Erfindung des Gummis von Charles Nelson Goodyear (1839) notwendig. Wer dann aus diesem Material den ersten Nuckel formte, ist unbekannt. Jahrzehntelang war er rund, doch vor fünfzig Jahren tauchte auf einmal einer auf, der aus der Reihe tanzte: der erste asymmetrisch geformte Sauger von NUK.
Die auf den ersten Blick ungewöhnliche Form bekam der moderne Sauger von den Zahnmedizinern Prof. Dr. Dr. Wilhelm Balters und Dr. Adolf Müller. Sie suchten nach Wegen, um Zahnfehlstellungen und Kieferverformungen, die durch Daumenlutschen oder nicht kiefergerecht geformte Sauger entstehen können, zu vermeiden. Sie stellten fest, dass Babys, die gestillt wurden, seltener davon betroffen waren. So nahmen sich die Wissenschaftler die mütterliche Brustwarze, die sich beim Saugen des Babys verformt und der Anatomie des kindlichen Gaumens anpasst, als Vorbild und entwickelten den neuen Schnuller. Der war dann auch bald im wahrsten Sinne des Wortes in aller Munde.
In den 80er Jahren gelang ein weiterer Durchbruch: Ganz im Trend des grellbunten Jahrzehnts - modisch betrachtet - entwickelte sich die Drucktechnik soweit, dass auch für den Schnuller jede Farbe und jedes Design möglich wurden: Ob rosa Hasen, blaue Enten oder Bärchen und Fische - es gibt, was das Kinderherz begehrt.
Bei dem kleinen Seelentröster wird jetzt außerdem auf Silikon gesetzt. Der transparente Stoff, der heute in nahezu allen Lebensbereichen - von Medizin über Kosmetik bis hin zur Kunst - Verwendung findet, hält nun auch in Babys Welt Einzug. Wissenschaftler, die im Bereich der Anthropologie (Wissenschaft vom Menschen) aktiv sind, gewinnen weitere Erkenntnisse über den kindlichen Gaumen. Ebenso wichtig wie die kiefergerechte Form ist die richtige Größe. Spätestens nach dem zweiten Lebensjahr sollte dann aber der Schnuller aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr zum Einsatz kommen. Eine Entwöhnung ist notwendig.
Auch in Zukunft können wir davon ausgehen, dass viel dafür getan wird, jungen Müttern und Vätern bei ihrer schwierigen, aber auch glückbringenden Aufgabe zu helfen. Da kann man sich ja nur noch eines wünschen: Hoffentlich bald wieder mehr Kinder.
Vanessa Leppert

Artikel vom 23.09.2006