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Das Glück einer »Familienmanagerin«:

Jeden Tag ganz locker dem normalen Wahnsinn begegnen
Von Judith Andreae


»Mein Mann hat ein gesichertes gutes Einkommen. Sein Job ist zwar stressig, aber die Arbeit ist fair und macht ihm Spaß.« Jahrelang hätte ich das allen Leuten auf Nachfrage schriftlich gegeben. Was für uns 6-köpfige Familie eines Managers im kaufmännischen Bereich hinter dieser Aussage auch noch steht, ist ein anderes Thema - abendfüllend.

Neben dem gewohnten Schlachtfeld, das solch ein Job für das nächste Umfeld beinhaltet, mussten wir nun 2004 die Erfahrung machen, dass überhaupt nichts mehr sicher ist. Auch das ist Stoff für einen Roman. Für den ist aber hier kein Platz. Ich mach's also kurz:

Wir waren zum x-ten Male wegen des Jobs meines Mannes umgezogen, meist mit einem Kind mehr als das Mal zuvor und mit Wechsel von Schulen, Kindergarten und Freunden. Meinen Beruf als Gartenarchitektin übte ich an den jeweiligen Wohnorten nur ansatzweise aus. Gottlob waren wir nie auf mein Einkommen angewiesen. Neben meinem hauptamtlichen »Backoffice« für 4 Kinder ließen sich eh nur die kleinen, überschaubaren Projekte realisieren. Zudem nahmen, nebenbei bemerkt, ehrenamtliche Tätigkeiten für Kindergarten, Schule, Kirche und Verein jeweils zu und in der Summe soviel Zeit in Anspruch, dass ich selbst mit der Bewältigung kleinerer Aufträge schon ins Schleudern geriet.

Wieder stand ein Umzug an. Unausgesprochen, aber klar war uns allen: Das muss der letzte sein. Unsere zwei großen Damen, Gesine und Katja, standen kurz vor der Pubertät. Die Trennung aus der lieb gewonnen Umgebung fiel schwer genug. Nochmals könnten wir ihnen das nicht zumuten. Uns selbst ehrlich gesagt auch nicht. Endlich wollte ich an einem Ort Wurzeln schlagen, ohne das Gefühl, nur auf dem Sprung zu sein.

Jedes Kind reagierte höchst individuell auf die neue Verlautbarung: »Bonn«. Die Älteste gab sich sehr vernünftig. Sie wollte uns wohl nicht zusätzlich Stress und Sorgen bereiten. Erst nach dem Umzug setzte dann das Heimweh ein. Die Zweite übernahm die Rolle der Totalverweigerin. Mit fettem Marker schrieb sie quer in meinen Kalender: »Ich bleibe hier! Bonn ist total schÉ«. Gemütslage eindeutig. Weitere Kommentare erübrigten sich. Louis, unser Sohn, zeigte sich gelassener: »Mami, ich ziehe mit...« - kurze Denkpause - ...wenn alle meine Freunde mitziehen!« Wenigstens erschwerte Romy, unsere Jüngste, nicht die Operation. Noch Stillkind, war ihr alles egal, solange die Brust in Reichweite blieb.

Vor Anker also in Bonn. Mit entschiedenem Integrationswillen. Unsere Wünsche scheinen sich zu erfüllen. Auch die Kinder zeigen sich nach einiger Zeit begeistert von ihrer neuen Umgebung. Zudem sind wir unserer weiteren Familie wieder näher gerückt. Das trägt einen großen Teil zu unserem Wohlbefinden bei. Nach kurzer Zeit dann der Schock: Die neuen amerikanischen Gesellschafter, die Tobias Firma übernommen hatten, beschliessen, deren Sitz nach Frankfurt zu verlegen.

Schon wieder Wochenendfamilie! Den Zustand haben wir doch gerade 4 Jahre praktiziert und durchlitten. Unser kollektiver Vorsatz »Nie wieder!« - so kurzlebig? Uns blieb keine Wahl. Von Belastbarkeit, Flexibilität und Mobilität im modernen Berufsleben schreiben nicht nur die Zeitungen. Die Unternehmen machen damit Ernst und fordern das ungefragt. Tobias hat den Zweitwohnsitz in Frankfurt noch nicht richtig bezogen, kommt die nächste Überraschung. Die Amerikaner haben sich entschieden - allen Verlautbahrungen von gestern zum Hohn -, ohne Tobias weiterzumachen. Aus. Aus mit Frankfurt, aus mit dem Job. Eine echte Heuschreckengeschichte.

Der Schock sitzt erstmal tief. Dann beschließen wir, aus der Situation das Beste zu machen. Das erste Mal seit Jahren bietet sich die Möglichkeit, eine »richtige« Familie zu sein. Das wird auch im Alltag bewusst praktiziert. Alle genießen es. Dringenden Nachholbedarf gibt es ja genug nach dem hektischen Umzugsjahr, bei dem Ruhe und gemeinsame Zeit reichlich auf der Strecke geblieben waren. Dennoch bedeutet es für alle eine Umstellung, die wir aber bravourös meistern. Große Krisen bleiben aus. Nur Tobias' parallele Jobsuche kratzt immer wieder an den Nerven.

Der Traumjob findet sich nicht leicht in diesen Zeiten. Jeden Job wollte Tobias nicht annehmen. Und er sollte, wenn irgend möglich, von Bonn aus gut erreichbar sein. So zog sich unsere geschenkte intensive Familienphase ein Jahr hin. Nach so langer Zeit der Trennung kosteten wir jedes - auch noch so banale - Familienerlebnis richtig aus. Tobias bekam erstmals wieder Einblick in den Alltag mit vier Kindern. Ich hatte plötzlich viele Freiheiten, die ich auch beruflich und für meine persönlichen Interessen nutzte. Zu blöd, dass eines Tages das passende Job-Angebot ins Haus flatterte, das meinen Mann wieder in Lohn und Brot brachte. Ohne Zweitwohnsitz.

Wegen der nicht ganz geringen Entfernung wäre er vielleicht ratsam. Die tägliche Sichtung seiner Familie ist ihm aber den Stress wert, jeden Tag zu fahren. Wir haben also fast wieder »normale« Verhältnisse. Ich kämpfe wieder gleichzeitig auf mehreren Baustellen, was mich abends wirklich alt aussehen lässt. Meine ich jedenfalls. Aber ich habe einen Mann, der jegliches Verständnis der Welt aufbringt. Er hat selbst alle Situationen durchlebt und entlastet mich so gut es geht.

Wir haben viele Freunde und oft Besuch. Die meisten haben mich schon einmal gefragt, was Familienmutter sein heute meiner Meinung nach verlangt und was es mir bedeutet. Meine Antwort muss ich also nicht neu erfinden: Heute in der Familie Mutter sein verlangt, sich einzulassen auf ein waghalsiges Abenteuer. Es verspricht, jeden Tag dem ganz normalen Wahnsinn zu begegnen. Es verlangt unter Umständen 24 Stunden Bereitschaftsdienst. Es erfordert Flexibilität und Einsatz in den unterschiedlichsten Disziplinen. Und mir bedeutet es - allen Problemen, Widrigkeiten, Arbeitseinsätzen, Pubertätsattacken und Umzügen zum Trotz - mein größtes Glück. Glück, das ich anfassen kann, das mir gehört, das ich aber auch weitergeben kann.

Ohne Familie hielte ich den Wahnsinn, der heutzutage überall ganz selbstverständlich ohne Knurren, ohne Murren von uns zu leisten ist, nicht aus. Ohne meine kleine Kinderschar könnte ich natürlich besser durchstarten, mich flexibler und schneller an allen Orten einfinden, aber ich käme mir leer und verarmt vor. Mein Tipp an alle, die es wissen wollen: Stürzt euch mit vollem Risiko in dieses Unternehmen. Die ökonomischen Gewinne werden persönlich am wenigsten zählen. Am Ende des Tages habt ihr hundertprozentigen Zugewinn. Auch wenn ihr zwischendurch schwer durchatmen müsst.

Artikel vom 16.09.2006