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Plädoyer für
Menschlichkeit

Brechts »Kreidekreis« in Paderborn

Von Manfred Stienecke
Paderborn (WB). Zur Saison-Eröffnung findet sich das Paderborner Theaterpublikum auf einer Müllkippe wieder. Zwischen Altkleidern und Gerümpel zeigen die Westfälischen Kammerspiele Bertolt Brechts »Kaukasischen Kreidekreis«.

Vielleicht hat ein Blick aus dem Fenster auf die riesige Baugrube des geplanten Theater-Neubaus die Regisseurin Barbara Neureiter auf die Idee gebracht. Wo derzeit die Archäologen nach Spuren der Paderborner Vergangenheit suchen, braucht es viel Vorstellungskraft, um an eine künftige Schauspielstätte zu denken - zumal sich der geplante Baubeginn immer wieder verzögert.
Ähnlich irritierend mag auf den ersten Blick die Deponie-Kulisse im Haus der Kammerspiele für das bekannte Brecht'sche Lehrstück wirken. Doch schon bald ergibt das Bühnenbild einen Sinn. Barbara Neureiter hat sich dazu eine einleuchtende Rahmenhandlung einfallen lassen: Einer der Müllhalden-»Bewohner«, die hier nach brauchbaren Dingen suchen und leere Flaschen einsammeln, liest die Fabel vom »Kaukasischen Kreidekreis« vor - und schon beginnt scheinbar improvisiert das Märchen von der einfachen Magd Grusche, die das von der Gouverneursfrau ausgesetzte Kind als ihr eigenes annimmt und aufzieht.
Kerstin Westphal spielt ihre Rolle mit viel Herzblut. Sie nimmt tapfer alle Entbehrungen und Zumutungen auf sich, um sich und »ihr« Kind durchzubringen, geht eine demütigende Scheinehe mit dem jähzornigen Bauern Jussup (Willi Hagemeier) ein und steht letztlich doch vor der persönlichen Katastrophe, als die leibliche Mutter ihr Kind nach Jahren zurückfordert.
Doch Bert Brecht zeigt Mitleid mit der selbstlosen und mutigen Frau. Er lässt den Streit um das Kind von dem korrupten, aber intuitiv menschlich urteilenden Hilfsrichter Azdak (Thomas Heller) entscheiden. Der erinnert sich des »Salomonischen Urteils« aus der Bibel und lässt die beiden Frauen um ihr Kind kämpfen - sie sollen es aus einem Kreidekreis auf ihre Seite zerren. Die wahre, wenn auch nicht leibliche Mutter erweist sich als die nachgiebige, die das Kind bei der Prozedur loslässt, um es nicht zu quälen.
Zum Gelingen der Aufführung tragen die drei Musiker Elmar Büsse (Trompete), Gerhard Gemke (E-Piano) und Dieter Nowak (Schlagzeug) bei, die auch für den notwendigen klanglichen Rückhalt bei den Songs sorgen. Das Premierenpublikum zeigte mit lang anhaltendem Applaus, dass ihm die Version des Brechtstücks gefallen hat, und den Kammerspielen selbst mag die Inszenierung für manch notwendige Improvisation in der Bauzeit Hoffnung machen.

Artikel vom 09.09.2006