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»Die eine, alles überragende und befriedende Supermacht gibt es nicht.«

Leitartikel
11. September 2001

Ende der
Hassattacken
nicht in Sicht


Von Reinhard Brockmann
Der 11. September 2001 verändert die Welt.
An diesem fünften Jahrestag werden die meisten den Satz rückblickend denken: Der Todesflug von 19 Terroristen mit zu Massenvernichtungswaffen missbrauchten Verkehrsflugzeugen »veränderte« oder »hat die Welt verändert«. Also, Vergangenheit oder vollendete Gegenwart?
Beides wäre falsch. Angemessener bleibt das einfache Präsenz: Der selbstmörderische Angriff von zu allem entschlossenen Fanatikern, die sich als Gotteskrieger wähnen und einen möglichst hohen Blutzoll wollen, hält an. Es braucht keine hohe politische Erkenntnisgabe, um vorauszusagen, dass das sinnlose Töten unter Missbrauch islamischer Glaubenswahrheiten weitergehen wird.
Die Attacken auf das World Trade Center und das Pentagon hatten Vorläufer. Europa ließ der erste Angriff auf die Zwillingstürme 1993 ebenso kalt wie die Anschläge auf US-Einrichtungen in Kenia und Tansania sowie die US-Marine in Aden.
Europa spürt mit jedem Attentat, mehr noch mit jedem vereitelten Anschlag deutlicher, dass der 11. September mitnichten nur für antiamerikanischen Hass steht. Europäer und Asiaten sind genauso im Fokus der unfassbaren und un(be)greifbaren Täter.
Mit Massenmorden auf Djerba (April 2002), Bali (2002), Casablanca (2003), Istanbul (2003) über Madrid (2004), London (2005) und Nahverkehrszüge im Raum Dortmund/Köln (gottlob misslungen) zieht sich die Spur außerhalb der USA um die Welt. Selbst die Tode von Theo van Gogh und Pim Fortuyn in den Niederlanden markieren die mit solchen Vorfällen schlaglichtartig erhellte Grenzlinie zwischen westlicher Freiheit und feindlich gesonnenem Islamismus.
So wie Millionen Muslime in Europa unschuldig und vollkommen unberechtigt in den Blick der Sicherheitsverantwortlichen geraten, haben die bürgerlichen Freiheiten in der Alten Welt und in den USA Schaden genommen. US-Präsident George W. Bush, von vielen der Unfähigkeit geziehen, wurde in Teilen mit diktatorischer Machtfülle ausgestattet. Seine Geheimdienste erhielten das Recht zu foltern, sein Volk muss mehr Söhne und Töchter in höchstgefährliche Kriegseinsätze schicken. Dabei wird Amerika immer schwächer - geistig-moralisch sowieso, inzwischen aber auch militärisch.
Aus der bipolaren Welt, mit den Machtzentren Kreml und Weißes Haus, ist nicht die Welt mit der einen, überragenden (und befriedenden) Supermacht geworden, sondern eine multipolare. So etwas hatten Politologen in ihren Lehrbüchern für die Zeit nach dem Ost-West-Gegensatz schon in den 1970er Jahren vorhergedacht. Neu ist heute das Wort »hyperpolar«. Das bedeutet: Extrem zersplittert, unübersichtlich, latent explosiv.
Der 11. September ist kein abgeschlossenes Ereignis. Er hat die Welt weiter durcheinander gebracht. Von einer Neuordnung ist auch fünf Jahre danach nichts zu spüren.

Artikel vom 09.09.2006