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Intelligent und sprachgewandt

Fachleute bescheinigen Natascha Kampusch »große psychische Stärke«

Wien (Reuters/dpa). Nach dem ersten TV-Auftritt von Natascha Kampusch haben Experten der jungen Frau gestern große psychische Stärke bescheinigt.
Die 18-Jährige ist auf den Titelseiten fast aller Tageszeitungen.Fotos: dpa/Reuters

Trotz jahrelanger harter Entbehrung sei eine »sehr zähe un starke Persönlichkeit in diesem zarten Körper verborgen«, sagte die Psychologin Martina Leibovici-Mühlberger. Kampusch war von ihrem Entführer mehr als acht Jahre in einem Keller unter der Garage gefangen gehalten worden. »Zum Glück ist es ihm nicht gelungen, das Verlies, in das er sie körperlich sperren konnte, in ihren Kopf einzupflanzen«, sagte Leibovici-Mühlberger.
Das TV-Interview war am Mittwochabend in Österreich und Deutschland ausgestrahlt worden. Die Zuschauer erlebten eine redegewandte 18-Jährige, die zugleich selbstbewusst und zerbrechlich wirkte.
Der Kinderpsychiater Johann Zapotoczky sagte, Kampusch habe ihr Weinen mit Lachen überspielt. Er habe den Eindruck, ihr TV-Auftritt sei zu früh gekommen. Kampusch war erst vor zwei Wochen die Flucht aus dem Haus ihres Entführers gelungen, der kurz danach Selbstmord beging. »Dort wo es wirklich heikel wurde, hat sie mit Augen und Händen Abwehrbewegungen gemacht«, sagte Zapotoczky. »Die Erinnerung daran, was schwer traumatisierten Patienten passiert ist, ereilt diese oft erst Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte später«, sagte er. Kampusch hatte schon vor dem Interview angekündigt, sie werde über mögliche sexuelle Kontakte zu ihrem Entführer nicht öffentlich sprechen.
Der Kriminalpsychologe Adolf Gallwitz hat die Berater von Natascha Kampusch nach dem Fernsehinterview der jungen Frau scharf kritisiert. Der Betreuer-Stab mit dem offenbar hohen Einfluss auf die 18-Jährige wirke auf ihn wie »jenseits von George Orwell«, sagte der Professor der Polizeifachhochschule Villingen-Schwenningen (Baden-Württemberg). Am Mittwoch hatte Gallwitz selbst bei RTL den Auftritt des Entführungsopfers im Nachhinein kommentiert. Der Gang in die Öffentlichkeit sei nach seiner Einschätzung für Kampusch viel zu früh erfolgt und diene in keiner Weise dem Wohl der 18-Jährigen.
»Ich weiß nicht, ob der Betriebswirtschafter, der Medienspezialist oder der Psychiater in dieser Berater-Gruppe gerade das Sagen hat«, sagte Gallwitz. Bei der Fernsehaufzeichnung des Interviews hatte Kampusch auch wiederholt in Richtung ihrer Betreuer geschaut.
Davon abgesehen halte er das Entführungsopfer nach Betrachten der Interviewbilder für intelligent und sprachgewandt. »Sie hat eine weit überdurchschnittliche Sozialkompetenz und hat mich teilweise während des Gespräches fasziniert«, sagte Gallwitz.
Ihre Angaben, sich künftig für Hungernde sowie für Gewaltopfer in anderen Teilen der Welt einzusetzen, wertete Gallwitz positiv. »Zum einen ist das Teil der Verarbeitung, andererseits beweist es aber auch, dass Natascha durchaus ihren Platz im Leben finden kann.«
Dennoch werde das Entführungsopfer eine schwierige Zeit durchleben müssen. Aus diesem Grund wäre es angezeigt gewesen, mit öffentlichen Auftritten noch zu warten. Der posttraumatische Stress könne zu Depressionen führen, bei denen sie helfende Hände bräuchte. Zudem werde Kampusch in relativ kurzer Zeit das an Entwicklung nachholen müssen, was ihr in ihrem Verlies während der vergangenen acht Jahre versagt geblieben sei. »Sie wird ihre Pubertät ebenso nachholen wie ihre ersten Verabredungen mit jungen Männern oder den ersten Liebeskummer«, sagte der Kriminalpsychologe. Bei ihren Schritten in die Zukunft sollte Natascha Kampusch auf ihre inneren Bedürfnisse und ihr natürliches Empfinden hören, meinte er. Seite 4: Leitartikel

Artikel vom 08.09.2006