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Dr. Ursula Gast

»Eine ständige Bedrohung und Abhängigkeit kann für eine Überschärfe der Sinne sorgen

Leitartikel
Natascha Kampusch

Jetzt beginnt
für sie ein
neuer Kampf


Von Wolfgang Schäffer
Wenn das grenzenlose Erstaunen nachlässt, bleiben Fragen. Viele Fragen. Und die sind nicht einfach nur mit der Erklärung »Natascha Kampusch ist eine enorm starke Frau« zu beantworten.
Als zehnjähriges Kind wird Natascha entführt, lebt - oder das, was man in einem solchen Fall unter leben verstehen kann - die nächsten acht Jahre in Gefangenschaft. Die meiste Zeit davon muss sie in einem unterirdischen Verlies verbringen. Eingesperrt in einen Raum, der keine Schreie nach außen und keine Geräusche der lebendigen Welt hinein lässt.
Erst nach langen und bangen Monaten darf sie Fernsehen schauen und Zeitungen lesen. Kontakte zu anderen Menschen - außer zu ihrem Entführer - gibt es nicht.
Erschütternd die Schilderungen der heute 18-Jährigen, dass sie hungern musste in ihrem Verlies, dass sie oft alle Hoffnungen aufgegeben hatte, jemals wieder in Freiheit leben zu können. Bewegend die Momente, wenn sie von ihrer großen Hilflosigkeit und Verzweiflung spricht.
Phänomenal dagegen die Ausdrucksweise, mit der Natascha Kampusch vor den Kameras Rede und Antwort steht. Ihrem Peiniger attestiert sie gleich mehrfach eine Paranoia, ihre Angstzustände mit Herzrasen und Atemnot beschreibt sie als klaustrophobisch. Vor dem Hintergrund, dass die junge Frau seit ihrem zehnten Lebensjahr keine Schule mehr besucht hat, verfügt sie über ein geradezu atemberaubendes Wissen und einen beeindruckenden Sprachschatz.
Experten, wie beispielsweise Dr. Ursula Gast, Leiterin der Klinik für psychotherapeutische und psychosomatische Medizin im Evangelischen Krankenaus Bielefeld, haben dafür zumindest den Ansatz einer Erklärung. In Fällen dieser Art kann demnach aufgrund der ständigen Bedrohung und Abhängigkeit eine »Überwachheit« der Opfer entstehen. Diese »Überschärfe der Sinne« könne es Personen mit einer entsprechend hohen Intelligenz ermöglichen, Wissen aus allen erdenklichen Quellen aufzusaugen und abzuspeichern.
Während andere Kinder in Nataschas Alter spielten oder sich mit pubertären Problemen plagten, kämpfte sie darum, ihre Situation zu kontrollieren, ihrem Peiniger zumindest mit dem Einsatz ihres Verstandes auf Augenhöhe zu begegnen.
Das ist der jungen Frau allem Anschein nach mit Bravour gelungen - auch wenn sie in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren das Martyrium der Gefangenschaft immer wieder durchleben wird.
Ganz wichtig aber ist für Natascha Kampusch, dass ihr nach der erfolgreichen Flucht aus dem Verlies jetzt keine neue Gefangenschaft droht. Die der Öffentlichkeit und der Medien nämlich. Es ist ihr zu wünschen, dass sich ihre Berater vor allem um die Zukunft und die Gesundheit der Frau sorgen und nicht das verlockende Geldscheffeln vor Augen haben. Für die 18-Jährige gilt es jetzt, auch diesen Kampf zu bestehen.

Artikel vom 08.09.2006