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Trotz aller Hoffnungslosigkeit
am Plan zur Flucht getüftelt

Natascha Kampusch spricht über Ängste und Gefühle in der Gefangenschaft

Wien (dpa). Mit einer erschütternden Schilderung ihres Leidensweges ist Natascha Kampusch genau zwei Wochen nach der Flucht aus den Händen ihres Entführers erstmals öffentlich aufgetreten.
Acht Jahre lang lebte die Entführte eingesperrt in diesem winzigen unterirdischen Verlies.

Der österreichische Fernsehsender ORF2 strahlte gestern ein 40- minütiges Gespräch mit der 18-Jährigen aus, das zeitversetzt auch bei RTL zu sehen war. Natascha Kampusch verblüffte mit großer Klarheit, als sie ihre Überlebensstrategie schilderte: »Ich habe mit meinem späteren Ich einen Pakt geschlossen, dass es kommen würde und das kleine Mädchen befreien.«
Während des gesamten Gesprächs im Fernsehstudio wirkte sie selbstbewusst, aber auch angespannt. Auf Fragen antwortete sie ausführlich, gewählt und sehr präzise, häufig schloss sie dabei die Augen, mehrmals war sie nahe daran, in Tränen auszubrechen.
Sie zeigte sich dezent geschminkt und in modischer Kleidung; das rötlichblonde Haar der blassen Frau war mit einem lila Tuch zurückgebunden. Während ihrer achtjährigen Gefangenschaft in einem Verlies unter der Garage des Kidnappers Wolfgang Priklopil bei Wien habe sie »immer wieder getüftelt an dem Punkt, zu dem die Zeit reif ist. Ich konnte aber nichts riskieren«, sagte sie der »Westdeutschen Allgemeinen Zeitung« und der österreichischen Illustrierten »News« zu ihren Fluchtplänen.
Kampusch sprach über ihre Gefühle und die Flucht am 23. August: »Ich bin gerannt, wie ich ihn beim Telefonieren gesehen habe. Ich bin in verschiedenen Schrebergärten einfach über den Zaun gesprungen - panisch, wie in einem Actionfilm«. Die erste Frau, die sie traf, habe einfach nicht verstanden, was geschehen sei. Die Frau habe sie nicht in ihre Wohnung hinein gelassen. Sie sagte, sie sei stärker gewesen als ihr Entführer. »Im Prinzip war ich mir schon innerhalb der ersten paar Stunden nach meiner Entführung dessen bewusst, dass ihm was fehlt, dass er ein Defizit hat«, sagte die heute 18-Jährige. In ihrem Herzen habe sie sich nie einsam gefühlt, aber »wie ein armes Hendl in einer Legebatterie. Sie haben sicher im Fernsehen und den Medien mein Verlies gesehen. Also wissen Sie, wie klein es war. Es war zum Verzweifeln.«
Kampusch schilderte auch den Tag ihrer Entführung: »Es gab eine Auseinandersetzung mit meiner Mutter, weil mich mein Vater zu spät nach Hause gebracht hat.« Auf ihrem Schulweg habe sie aus einiger Entfernung das Auto ihres Entführers gesehen. Aus einem Bauchgefühl heraus habe sie zunächst die Straßenseite wechseln wollen, es dann aber doch nicht getan. Der Kidnapper habe sie dann gepackt. »Ich versuchte zu schreien, aber es kam kein Laut raus.«
Ihren Entführer bezeichnete Kampusch als »Verbrecher« und paranoid. Zwar habe er sie mit nach draußen genommen, doch »er war sehr vorsichtig. Er ist kaum von meiner Seite gewichen, hat jedes Mal panikartige Zustände bekommen, wenn ich auch nur drei Zentimeter von ihm entfernt gestanden bin« sagte die junge Frau. Sie habe sich langsam sein Vertrauen sichern müssen. E
Manchmal habe sie davon geträumt, Priklopil »den Kopf abzuhacken, hätte ich eine Axt besessen«, gestand sie. Dennoch fühle sie sich mitschuldig am Tod Priklopils: »Ich war mir völlig bewusst, dass ich ihn mit meiner Flucht zum Tode verurteile. Er hat sowohl mich als auch den Herrn, der ihn zum Bahnhof fuhr, und auch den Schnellbahnfahrer, indirekt zum Mörder gemacht.«
Auf Fragen nach ihrer Zukunft antwortete Kampusch lächelnd. Sie wolle »die Matura (Abitur) nachmachen, vielleicht studieren. Und ich möchte eine Stiftung gründen und Hilfsprojekte aufstellen«. Sie wolle sich um hungernde Menschen kümmern: »Ich habe in meiner Gefangenschaft auch gehungert. Deshalb möchte ich mich dafür einsetzen«. Zudem wolle sie sich für Frauen in Mexiko einsetzen, die gekidnappt und misshandelt werden.
Mit dem Gang an die Öffentlichkeit wollte man auch den Spekulationen und Vermutungen um ihr Schicksal »den Wind aus den Segeln nehmen«, sagte der ORF-Journalist Christoph Feurstein. Der 34-Jährige führte das TV-Interview mit der 18-Jährigen. Der Erlös aus den Verträgen, die Berater mit den beteiligten Medien ausgehandelt hatten, sollen »Kronen Zeitung« und »News« zufolge für die Ausbildung und die Wohnung der 18-Jährigen Sorge tragen. Der ORF, der angeblich für das Exklusivrecht »keinen Cent« bezahlt hat und die internationale Vermarktung der Aufzeichnung organisiert, wird alle Erlöse in einen »Natascha Kampusch Fonds« fließen lassen.
Natascha Kampusch war am 2. März 1998 auf dem Weg zur Schule von Priklopil entführt worden. Nach mehr als acht Jahren in seiner Gewalt gelang ihr am 23. August die Flucht vor dem 44-Jährigen, der sich wenig später selbst tötete. Seitdem wird sie medizinisch und psychologisch betreut.

Artikel vom 07.09.2006