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Der Weg vom
schrillen Punk zum
soliden Grafen
20 Jahre auf der Tour veränderten auch Agassi
Was ist denn das für ein schmuddeliger Besucher in meinem Wohnzimmer? So oder ähnlich muss Boris Becker im Juli 1995 gedacht haben, als er in Wimbledon den Centre Court betrat. Als er sah, wer ihm da im Halbfinale gegenüberstand, konnte er seinen Augen kaum trauen. Der Bursche sah aus wie ein Pirat - mit Tuch um den Kopf, Ringen in den Ohren und untenrum einer viel zu weiten, knielangen Hose. Ganz in Weiß, aber so gar nicht dem Rasen-Knigge entsprechend.
Becker gewann. Aber beeindruckender waren die verbalen Gefechte. Becker stänkerte, Agassi raunzte zurück. Die finale Bemerkung des Champions: »Ich würde meinen Kindern verbieten, so rumzulaufen wie Agassi!«
Keine Frage: Agassi war und blieb anders. Als er 1986 sein Profi-Debüt gab, sah er noch schlimmer aus. Er spielte in abgerissener Jeans, darunter lugte eine pinkfarbene Radlerhose hervor. Das T-Shirt hätte aus dem Kleidersack eines Punk-Rock-Sängers stammen können.
So spielte Agassi dann auch. Wie ein tasmanischer Teufel flitzte er mit kleinen Schritten über den Platz und begann, die Etablierten vom Platz zu fegen. Zum Kosmos der glattrasierten Musterschüler mit kurzen Haaren und weißer Kleidung gehörte er nicht. Nach Wimbledon wollte er nicht mehr fahren: »Diese Historie ist mir suspekt«, gab er zu Protokoll - shocking!
Geboren wurde Agassi in Las Vegas. Wo sonst? Andere kamen aus Leimen, Ostrava und Västervik. Die hatten einen bombastischen Aufschlag und waren schnell am Netz. Kein Problem für den Aufstrebenden: Seine Returns schlugen wie Kanonenkugeln ein. Boris Becker, Ivan Lendl und Stefan Edberg guckten oft nur verdutzt.
Auch das Privatleben von Agassi war damals anders. Lendl war verheiratet und sollte fünf Kinder bekommen, von Edberg erfuhr man nichts Privates und Becker war - zu jener Zeit zumindest - völlig unskandalös mit Karen Schultz liiert.
Agassi dagegen hatte eine heftig schlagzeilenträchtige Affäre mit der 24 Jahre älteren Schauspielerin, Sängerin und Regisseurin Barbra Streisand, bevor er mit Brooke Shields zwar nicht in der blauen Lagune schwamm, sie dafür heiratete - und angeblich mit zahlreichen Hollywood-Sternchen betrog.
Agassi war ein Star mit persönlichem Bodyguard, der immer überraschte. Als ihm der Wimbledon-Auftritt - ja, er war dann doch zurückgekehrt - mal wegen seines Kleidungsstils fast verwehrt wurde, spielte er komplett in Weiß. Als sich die Fans an seine Mähne gewöhnt hatten, rasierte er sich den Schädel.
Die größte Überraschung bleibt aber die Wandlung zum Familienmenschen und Vater.
Es war 1997, als der Tennisspieler komplett abzustürzen drohte: Die erste Ehe lag in Trümmern, die beiden kommunizierten nur via Medien. Wenn sie sich mal begegneten, flogen die Fetzen. Wie es Agassi ging, konnten die Fans miterleben. Er futterte sich fett und flog in der Weltrangliste aus den Top 100.
Boris Becker versuchte sich nach der Karriere als Geschäftsmann, Michael Stich als TV-Moderator - beide mit mäßigem Erfolg. Agassi jedoch konzentrierte sich auf das, was er kann: Tennis spielen. 1999 gelang ihm das Comeback. Und was für eines. Er gewann die French Open und schaffte damit, was außer ihm nur vier Spieler meisterten: Er hat alle vier Grand-Slam-Turnieren mindestens einmal gewonnen. Agassi war wieder zurück im Rampenlicht. Doch diesmal war alles anders.
An seiner Seite war eine gestandene Frau: Stefanie Graf, eine der erfolgreichsten und charismatischsten Tennisspielerinnen aller Zeiten. Nicht nur die deutschen Medien spielten verrückt: der Lebemann und die Frau, die alles der Karriere unterordnete. Konnte das funktionieren?
Anfang 2001 war es amtlich. Es gab ein neues Traumpaar im Sport: die Gräfin und der Graf. Und es ging besser, als es alle erwartet hatten: Am 22. Oktober 2001 heirateten die beiden, bisher trägt die Ehe zwei reizende Früchte auf zwei Beinen.
Der Punk-Pirat ist seither stiller geworden. Das bedeutet aber nicht, dass es ruhig um ihn geworden wäre. Im Gegenteil: Bis zum Schluss inszenierte der Sohn eines in die USA eingewanderten Iraners seine Auftritte, doch trat er nun als Übervater des Tennis auf. Er sah sich als Konstante unter den Jungen, die ihn längst vom Thron geholt hatten.
Er hat den Zeitpunkt und den Ort seines Abschieds mit Bedacht gewählt. New York - die Stadt, die niemals schläft. In Flushing Meadows, wo es immer laut ist. Wo er vor 20 Jahren seinen ersten Grand Slam spielte. Wo alle drei Minuten ein Flugzeug über die Plätze donnert. Wo an einem Tag nur Schulkinder unter den Zuschauern sind. Da fühlte sich Agassi bis zuletzt zu Hause.
Und dann traf er wieder auf einen Becker aus Deutschland, diesmal mit dem Vornamen Benjamin. Und der vertrieb ihn aus seinem Wohnzimmer - endgültig. Oliver Kreth

Artikel vom 09.09.2006