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Der stumme Regisseur

Von Esther Steinmeier
und Wolfgang Nellen
In jeder lebenden Zelle wird Theater gespielt. Der Text des Stückes hat nur vier Buchstaben: A, C, G, T. Die vier DNA-Basen bilden den genetischen Code, der 2001 für das menschliche Genoms entschlüsselt werden konnte. Die Schauspieler, die das Drama des Lebens spielen, sind unsere Gene.
Prof. Dr. Wolfgang Nellen ist Epigenetiker an der Universität Kassel.
Können wir in den Ablauf des Stücks eingreifen? Können wir Krebs, Alzheimer, Diabetes heilen, weil wir nun wissen, welche Gene dafür verantwortlich sind? Werden wir in absehbarer Zeit wissen und bestimmen können, ob unsere Kinder blaue oder braune Augen haben, gesund oder krank sind? Nein: Allein das Wissen um die Gen-Bausteine reicht nicht aus, um in das »Design« des Menschen einzugreifen. Und es wird immer deutlicher, wie wenig bekannt ist über die Mechanismen, die dafür sorgen, ob und in welcher Intensität ein Gen aktiv ist. Eine Wissenschaftsdisziplin, die sich damit befasst und lange im Schatten der Genetik stand, rückt nun in den Vordergrund - die Epigenetik.
Zu den zentralen Forschungsthemen der Epigenetik (epi, griechisch = über) gehört es, die Schaltermechanismen für die Gene zu untersuchen. Oder anders: die Regisseure bei ihrer Arbeit zu beobachten. Einer der Regisseure ist ein biochemischer Vorgang, die Methylierung. Sie nimmt entscheidende Veränderungen im Textbuch vor: An die ursprüngliche Base C (Cytosin) wird eine Methylgruppe angehängt. Ein fünfter Buchstabe entsteht, das mC. Anders als die anderen Basen A, G, und T kann das C in verschiedenen Zelltypen und verschiedenen Stadien der Entwicklung mal mit und mal ohne die Methylgruppe vorliegen. Es ist dem genetischen Code übergeordnet und kann die Schaltung von Genen steuern. Meistens schaltet die Methylierung Gene ab. Das ist gut, wenn Methylierung Fremd-DNA unschädlich macht, die zum Beispiel von Viren stammt. Das kann allerdings auch fatal sein: So wurde festgestellt, dass in Krebszellen bestimmte Gene, die zur Tumorunterdrückung dienen, methyliert und damit abgeschaltet waren.
Doch wonach entscheidet der Regisseur? Nach welchen Gesichtspunkten sucht er aus, welcher Schauspieler auf der Zellbühne aktiv ist, welcher hinter dem Vorhang auf seinen Auftritt wartet und welcher passive Zweitbesetzung ist? Sicher ist, dass Methylierung - und damit die individuelle Zellentwicklung - Einflüssen von außen unterliegt. Das Ausmaß hängt auch davon ab, ob durch die Nahrung ausreichend Methylgruppen aufgenommen werden. Ein wichtiger Lieferant ist zum Beispiel die Folsäure, die in Leber, Spinat und Vollkornprodukten enthalten ist.
Die Methylierungsregie vollzieht sich in fast jeder lebenden Zelle, gleichgültig, ob von Menschen, Pflanzen oder Tieren. Die Amöbe Dictyostelium discoideum ist als Forschungsobjekt für Epigenetiker besonders interessant, weil dieser einzellige Organismus überleben und sich vermehren kann, wenn die Methyltransferase gentechnisch zerstört wird. Die Amöben sind zwar nicht »gesund«, aber menschliche Zellen sterben ohne mC ganz ab. Wenn nun nach mehreren Zellgenerationen, die nie durch ein methyliertes C beeinflusst wurden, die Amöbe mit einer neuen Methyltransferase »geheilt« wird, kann beobachtet werden, nach welchen Mustern sie die Cs in der DNA bearbeitet. Die interessante Frage dabei: Erinnert sich die Zelle an das alte Muster oder findet sie ein neues? Lässt der Regisseur seine Schauspieler das alte oder ein neues Stück spielen? Erledigt er seinen Job genau so wie vor der Spielpause, dann sollte man einen Blick auf die Bühne in den menschlichen Zellen werfen. Könnten sich Krankheiten dadurch heilen lassen, indem man Methylierung unterstützt? Und kann man sich darauf verlassen, dass sie gezielt und, ohne unerwünschte Nebenwirkungen auszulösen, arbeitet? Dazu müsste man wissen, nach welchen Regeln der Regisseur seine Anweisungen gibt.
Daran arbeitet im US-amerikanischen Durham (North Carolina) an der Duke-Universität der Epigenetiker Randy Jirtle. Er hat dicke Mäuse auf eine spezielle Diät gesetzt. Die Agouti-Maus ist eigentlich klein, braun und gesund. Es gibt aber eine Maus-Variante, die blondes Fell hat, übergewichtig ist und häufig an Krebs erkrankt. Jirtle vermutete, dass diesen Mäusen die wichtigen Methylmarker fehlen und gab trächtigen blonden Mäusen mit Folsäure angereichertes Futter. Während eine Vergleichsgruppe von Mäusemüttern, die ohne Folsäure gefüttert wurden, weiterhin übergewichtigen hellen Nachwuchs gebar, kamen die Kinder der Folsäuren-Mäuse nun klein und mit braunem Fell auf die Welt. Die Folsäure hat den Methylierungsprozess in Gang gesetzt, eine bestimmte Gen-Kombination wurde abgeschaltet, die zuständig ist für die Fellfarbe, das Übergewicht - und die Krebserkrankung.
Können wir also durch »gesunde Ernährung« allein Krebsgene im Zaum halten? »Ganz so einfach ist das faszinierende Ergebnis von Jirtle nicht zu verstehen«, sagt Professor Jörn Walter von der Universität des Saarlandes. Walter ist Koordinator eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Schwerpunktprogramms, in dem 17 Epigenetik-Projekte zusammengefasst sind. »Wir verstehen zwar einen einzelnen Vorgang in der Labor-Maus, aber nicht, nach welchem Muster die Prozesse in der Natur und im Menschen ablaufen. Was wir machen, sind punktuelle Aufnahmen im Zusammenhang mit Krankheiten. Die Entwicklung einer Therapie unter Nutzung epigenetischer Erkenntnisse ist ein weiter Weg.«
Ein internationales Projekt, an dem auch deutsche Epigenetiker mitarbeiten, ist das »Human Epigenome Project«. In Anlehnung an das »Human Genom Project«, das den genetischen Code des Menschen entschlüsselte, wollen Forscher den epigenetischen Code zu knacken. Jörn Walter gibt einen Ausblick auf die Dimension: »Das Epigenom besteht aus vielen unterschiedlichen Lagen von Informationen. Wir haben ungefähr 200 Zelltypen und wir gehen davon aus, dass wir 200 verschiedene Epigenome haben. Eine vollständige Entschlüsselung des Epigenoms würde bedeuten, dass wir uns unser Genom 200 mal anschauen müssen. Dies wird in nicht allzu ferner Zukunft möglich sein und diese Informationen werden uns viel über unser »genetisches ich« sagen.«
Bislang bleibt der Regisseur stumm. Die Epigenetiker werden ihn zum Sprechen bringen.

Artikel vom 09.09.2006