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Glückwünsche an Gerdemann

Derny statt Rasenmäher: Das konnte für Jörg Ludewig nicht gutgehen

Von Hans Peter Tipp
Steinhagen (WB). An den Zuschauer lag es nicht. Mit rhythmischem Klatschen und lauten Zurufen trieben sie den Lokalmatadoren unermüdlich an. Doch nach 39 rasanten Tempokilometern hinter knatternden Dernymotoren musste »ihr« Jörg Ludewig als Vierter einem Anderen gratulieren.
Radsport-Pirat auf Beutezug: René Schiller (sechs Jahre) aus Steinhagen war der jüngste Teilnehmer.
Linus Gerdemann entriss dem mit einer Sondererlaubnis gestarteten Steinhagener den erhofften Sieg bei seinem »Heimspiel«. Der siegreiche T-Mobile-Profi hatte für seinen Erfolg einiges auf sich genommen. 600 Kilometer lang war die Anreise zum Sieg, denn abends zuvor fuhr Gerdemann noch in Ravensburg. Heute ist er schon wieder bei der Polen-Rundfahrt am Start.
Der spätere Gewinner taute erst im Rennverlauf auf. »Es war für mich keine Spazierfahrt«, sagte er bei der Siegerehrung: »aber wenn man ein Rennen gewinnen will, ist das immer mit Schmerzen verbunden.« Das erneut vom RSV Gütersloh vorbildlich ausgerichtete Profi-Radrennen um den Großen Preis des WESTFALEN-BLATTes fand damit in seiner dritten Auflage den dritten Sieger. Nach Olympiasieger Bruno Risi 2004 und dem heimatlichen Helden Ludewig vor einem Jahr »drängelte« sich erstmals ein Fahrer ganz nach vorn, für den die Zukunft gerade erst begonnen hat.
Gerdemann, 23 Jahre alt, ein gebürtiger Münsteraner. Er gilt als die große deutsche Radsport-Hoffnung für die Zeit nach Jan Ullrich. Ein Magenta-Mann ist er ja schon in diesem Jahr geworden. In Steinhagen spürten die begeisterten Zuschauer, warum die Bonner ihn wollten. Obwohl er den »ersten Zug« verpasste, war er bei der Entscheidung zur Stelle. Ludewig und Marcel Sieberg lösten sich nach 19 Runden mit einem energischen Zwischenspurt aus dem »besten Teilnehmerfeld aller Zeiten« (Ludewig). Zunächst folgten nur Oldie Andreas Kappes sowie Björn Schröder und der deutsche Meister Dirk Müller.
Gerdemann (»Ich war unaufmerksam, das war ärgerlich«) kam spät, dann aber umso gewaltiger. Fünf Runden vor Schluss trat er an, und nach exakt drei Zieldurchfahrten hatte er die Enteilten gestellt. Zwar gingen Ludewig und Müller als Erste auf die Zielrunde, doch Gerdemanns letztem Antritt hatten sie nichts entgegenzusetzen.
Nach getaner Arbeit blieb dem Lokalmatadoren nur der ehrliche Respekt und der Glückwunsch an den Sieger: »Ich konnte einfach nicht mehr.« Schließlich habe er nach seiner Suspendierung beim Team T-Mobile -Ê während der Tour de France, für die er nicht nominiert war, hatte eine große deutsche Tageszeitung eine acht Jahre zurückliegende Anfrage nach Dopingsubstanzen »enthüllt« -Ê nur Rasenmäher gefahren.
Hinter den sich mit einem ähnlichen Geräuschpegel fortbewegenden Dernymaschinen gab Ludewig im neutralen weißen »Steinhagen-Trikot« sein Bestes und nahm von seinem auf absehbare Zeit einzigen Renntag einen ganz wichtigen Fingerzeig für die anstehenden Zukunftsfragen mit nach Hause: »Das Rennfahrerherz hat in meiner Brust wieder ganz wild geklopft. Wenn es eben geht, möchte ich diesen Beruf auch weiterhin ausüben.«
Möglicherweise steht die Entscheidung in Kürze an. Nach eigener Aussage liegen dem 30 Jahre alten Radprofi im unfreiwilligen Ruhestand gleich sechs Job-Angebote vor - drei im aktiven Sport, zwei in Randbereichen des Radgeschäfts und eines aus einer anderen Branche.
Noch in dieser Woche könnte sich entscheiden, wohin der Weg des Steinhageners führt - möglicherweise ja doch wieder in die erste Rennsportliga. »Ein Team aus der ProTour ist auch dabei«, verriet Ludewig am Samstag ganz bereitwillig.

Artikel vom 04.09.2006