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Wenn die eigene Mutter eine Fremde ist

Maria K. war sechs Jahre, als auf dem Bielefelder Bahnhof ihr Leben aus den Fugen geriet

Von Christian Althoff
Herford (WB). Dieses Geschichte um eine 61 Jahre alte Herforderin ist eine Geschichte ohne Happy End. Denn die Frau leidet bis heute darunter, dass sie vor 55 Jahren als kleines Mädchen jener Frau entrissen wurde, die sie bis dahin für ihre Mutter gehalten hatte. »Und damit werde ich einfach nicht fertig«, sagt Maria K.
Als Maria K. (r.) konfirmiert wurde, kam »Mutti Hermine« aus Leopoldshöhe zum Gratulieren.

Ihr Vater war im Krieg gefallen, als Maria 1945 zur Welt kam. »Trotzdem hatte ich eine wunderschöne Kindheit«, erinnert sich die Herforderin, die auf dem Hof Meier zu Krentrup in Leopoldshöhe (Kreis Lippe) aufwuchs. Ihre Mutter Hermine sei eine herzensgute, fromme Frau gewesen. »Sie hat mir abends Geschichten vorgelesen, und wir haben bei Vollmond Nachtspaziergänge durch unsere Felder unternommen.« Überhaupt sei das Leben auf dem Bauernhof für ein Mädchen wie sie das größte gewesen: »Es gab einen Teich, auf dem ich im Winter Schlittschuhlaufen konnte, und etliche Ackergäule, auf denen ich reiten durfte.« Zum Hof habe auch ein Wald gehört, in dem sie stundenlang mit Nachbarskindern gespielt habe. Diese Idylle fand im März 1951 ein jähes Ende. »Mutti Hermine und ich fuhren mit dem Bus nach Bielefeld - zum Einkaufen, wie ich glaubte.« Doch die Fahrt endete am Hauptbahnhof. Maria K., die damals fast sechs Jahre alt war, sieht die Bilder heute noch vor sich: »Es war kalt, und wir standen auf einem Bahnsteig zwischen vielen Menschen in dunklen Mänteln. Meine Mutter sprach mit einer Frau, und die nahm mich plötzlich an die Hand und zerrte mich in den wartenden Zug. Ich geriet in Panik!«
Die Reise endete in Lünen, und Maria K. meint heute, sie habe die ganze Fahrt über geschrien. »Diese wildfremde Frau eröffnete mir, einem kleinen Mädchen, dass sie meine leibliche Mutter ist«, erzählt die 61-Jährige. Denn das Jugendamt hatte Maria mit neun Monaten der biologischen Mutter fortgenommen und sie der Pflegemutter Hermine Meier anvertraut. »Für mich brach mit einem Schlag meine heile Welt zusammen. Es war das Ende einer glücklichen Kindheit«, erzählt Maria K.
Das Mädchen traf damals in Lünen auf seinen Stiefvater, einen Bergmann, und einen zweijährigen Stiefbruder. »Ich habe viel geweint in dieser Zeit«, sagt Maria K. »Ich bin der Frau, die meine Mutter war, aus dem Weg gegangen. Uns verband nie mehr als ein kühles, distanziertes Verhältnis.« Hermine Meier - sie sei ihre »richtige« Mutter gewesen, strahlt die 61-Jährige. »Auch wenn ich in Lünen verdonnert worden war, sie nicht mehr Mutti, sondern nur noch Tante zu nennen.«
Die Sehnsucht, nach Leopoldshöhe zurückzukehren, bestimmte fortan das Leben des Kindes. »Meine Mutter sagte immer: Wenn du artig bis, darfst du in den Sommerferien zu Tante Hermine.« Die Aussicht auf ein Wiedersehen sei »der rote Faden« in ihrem jungen Leben gewesen, erzählt die 61-Jährige: »Ich habe jeden Tag daran gedacht und die Wochen gezählt.« Jahr für Jahr verbrachte Maria K. im Sommer »sechs unvergleichliche Wochen« auf dem Hof Meier zu Krentrup, half bei der Ernte, brachte den Arbeitern nachmittags Muckefuck und Brote aufs Feld. In einem dieser Urlaube erfuhr sie, dass ihre Pflegemutter Hermine immer davon ausgegangen war, Maria für immer behalten zu dürfen. »Sie sagte, die Trennung auf dem Bielefelder Bahnhof habe ihr das Herz herausgerissen.«
Mit 14 Jahren verließ Maria K. ihr Elternhaus und ging nach Bielefeld-Bethel, wo sie eine Ausbildung zur Hauswirtschafterin und später zur Kinderkrankenschwester machte. »Ich lebte im Schwesternwohnheim und fuhr jedes Wochenende mit dem Bus nach Leopoldshöhe. Meine leibliche Mutter habe ich nur noch einmal im Jahr gesehen.«
Bevor Hermine Meier 1968 einem Krebsleiden erlag, hatte Maria K. sie noch vier Wochen pflegen können. »Sie hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Sie hat mir Regeln und Werte vermittelt, und ich bin ihr unendlich dankbar.« Seit 1968 lebt und arbeitet die verheiratete Kinderkrankenschwester in Herford. Sie hat Enkelkinder, ist optimistisch und lebensfroh - und kehrt mit ihren Gedanken doch immer wieder in die 50er Jahre zurück. Vor fünf Jahren hatte Maria K. den letzten Versuch unternommen, mit ihrer heute 83 Jahre alten Mutter über ihre Kindheit zu sprechen - vergeblich. »Sie sagt, sie kann sich an nichts erinnern, alles sei so lange her.«
Das Leben in den Nachkriegsjahren sei für viele Mütter schwierig gewesen, meint Maria K., und vielleicht gebe es ja auch einen nachvollziehbaren Grund, dass das Jugendamt sie erst zu einer Pflegemutter gegeben und sie später wieder zurückgeführt habe. »Aber gar nichts darüber zu wissen - das ist wie ein dunkles Loch in meiner eigenen Geschichte. Das habe ich bis heute nicht aufgearbeitet.« Ebenso wenig wie die Trennung vor 55 Jahren auf dem Bielefelder Bahnsteig. »Dieser traumatische Tag - er verfolgt mich bis heute.«

Artikel vom 02.09.2006