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Ghasi Hamad

»Als ob wir hartnäckig darauf beharrten, die Besatzer in Gazastreifen zurückzubringen«.

Leitartikel
Im Alltag angekommen

Ganz neue Einsichten
der Hamas


Von Reinhard Brockmann
»Wer sich in den Straßen von Gaza bewegt, stößt auf unbeschreibliches Chaos, phlegmatische Polizeibeamte und mit Gewehren umherstolzierende junge Männer.«

Nicht einer der wenigen Israelfreudlichen Berichterstatter im Palästinensergebiet hat diesen Satz aufgeschrieben, sondern Ghasi Hamad, der Sprecher der Hamas-geführten palästinensischen Autonomie-Regierung. Die ungewöhnliche Einsicht ist Bestandteil einer bemerkenswerten Generalkritik, die zu dem Ergebnis kommt, dass inmitten der anhaltenden Anarchie und Korruption der Kampf gegen Israel »bedeutungslos« zu werden drohe.
Was also veranlasst die Stimme von Ministerpräsident Ismail Hanija, mit militanten Fraktionen und Splittergruppen so hart ins Gericht zu gehen?
Ganz einfach. Es ist die Einsicht, dass mit faschistischem Genozidgerede gegen »die Juden« selbst in Nahost kein Staat zu machen ist.
In Gaza hat das Umdenken noch nicht wirklich begonnen, aber der Alltag holt soeben die radikalisierten Nachfolger Jassir Arafats ein. Schon der PLO-Chef war an den einfachsten Aufgaben eines Landrats gescheitert.
Ins Bild passt auch, dass sich gerade am Dienstag hunderte Palästinenser in Gaza heftige Straßenschlachten mit der Polizei lieferten. Es ging einzig und allein um Arbeit. Auch die Wähler der Hamas wollen ihr Auskommen und gesicherte Versorgung.
Die seit sieben Monaten regierende Hamas spürt, dass ihr die Erfolge nicht - wie oft behauptet - allein wegen der israelischen Blockade verwehrt bleiben.
»Jedesmal, wenn wir (mit Israel) die Öffnung eines Grenzübergangs oder eines Warenterminals vereinbart haben, tauchen Militante auf und schießen absichtlich eine Rakete ab«, das beklagt inzwischen selbst der Hamas-Sprecher. Die Palästinenser würden sich nichts mehr erträumen, bekennt er, als das Ende der 38-jährigen Besatzungssituation, zugleich aber scheine es, »als ob wir hartnäckig darauf beharrten, die Besatzer in den Gazastreifen zurückzubringen«.
Jetzt müssten den einsichtigen Worten eigentlich Taten folgen, etwa die Freilassung des seit dem 25. Juni verschleppten israelischen Soldaten Gilad Schalit. Knapp 200 bewaffnete Kämpfer mussten für die herausgeforderte Rückkehr der israelischen Armee bislang mit dem Leben bezahlen. Dieser den Lemmingen gleiche Sturm der Unvernunft gegen übermächtige Feinde kann ein Ende haben, wenn die Verantwortlichen bei der Hamas dazu beitragen.
Und noch zwei Punkte haben im Gazastreifen zur neuen Sicht der Dinge verholfen. Mit dem Beginn des Libanon-Krieges waren auf einmal die internationalen TV-Teams abgezogen. Die bekannten martialischen Rituale fanden plötzlich unter Ausschluss der Weltöffentlichkeit statt. Außerdem haben alle mitansehen können, was geschieht, wenn man es mit dem Raketenbeschuss israelischer Städte übertreibt.

Artikel vom 31.08.2006