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»Nordisrael zu dem Paradies
machen, das es sein könnte«

Nach dem Krieg sind die Zerstörungen an Seelen wie Häusern gewaltig

Von Reinhard Brockmann
Nahariya (WB). Der tägliche Verkehrsstau ist zurück in Nahariya, der mit 50 000 Einwohnern zweitgrößten Stadt in Nordisrael. Und das freut die Menschen in Bielefelds Partnerstadt, die fünf Wochen unter Raketenbeschuss lag. Dennoch ist nichts mehr, wie es vor dem Krieg war. Die Nächte in den Bunkern haben Spuren hinterlassen, mehr als die äußerlichen Zerstörungen erkennen lassen.
Zumindest von den Sachschäden konnte sich Ministerpräsident Ehud Olmert überzeugen, als er dieser Tage das Krankenhaus von Nahariya besuchte. Dort waren zwei von 4000 Hisbollah-Raketen eingeschlagen.

Zumindest von den Sachschäden konnte sich Ministerpräsident Ehud Olmert ein Bild machen, als er dieser Tage das Krankenhaus von Nahariya besuchte. Dort waren zwei von 4000 Hisbollah-Geschossen eingeschlagen.
Der wegen des geringen militärischen Erfolges im eigenen Land unter Druck geratene Regierungschef sagte dem Norden eine Milliardenhilfe für die Beseitigung der Kriegsfolgen zu. Bis zu 1,8 Milliarden Euro sollen in den Wiederaufbau fließen. Olmerts kaum einzuhaltendes Versprechen: »Den Norden zu dem Paradies machen, das er sein könnte«.
Eine Million Menschen soll während der Kriegswochen in den Süden geflohen sein. Offizielle Zahlen darüber, wie viele inzwischen zurückgekehrt sind, gibt es nicht. Wenn Sonntag die Schulen wieder beginnen, dürfte sich zeigen, wie groß die Lücken sind, die der Krieg gerissen hat.
Überall hat der Angriff der Hisbollah Spuren hinterlassen. Auch die Bewohner von Kiryat Shmona haben die Luftschutzbunker endgültig verlassen und mit den Aufräumarbeiten begonnen. »Wir versuchen, wieder zum Alltag zurückzukehren«, sagt Café-Besitzer Avi Tal. In den ersten Tagen fand er es eigenartig, sich nach ständigen Alarmierungen und Explosionen an die Stille zu gewöhnen.
2000 getroffene Wohnhäuser, sieben Schulen, sieben Kindergärten und zwei Einkaufszentren stehen auf der Schadensliste der 25 000-Einwohner-Gemeinde. Beziffern lassen sich die wirtschaftlichen Schäden. Die Sommersaison in den touristischen Betrieben ist komplett ausgefallen und das Obst in den Plantagen weder gepflegt noch gepflückt worden. Nimmt man zerstörte Straßen und Waldbrände hinzu, kommt Nationalbankchef Stanley Fischer auf eine Milliarde Euro. Nach Angaben des »Jewish National Fund« wurden acht Millionen Quadratmeter Wald verwüstet, die Wiederaufforstung um 50 bis 60 Jahre zurückgeworfen. Unklar ist, wieweit der Einsatz von 30 000 Reservisten die vor dem Krieg mit 6,5 Prozent Wachstumsrate boomende Volkswirtschaft aus der Spur geworfen hat.
Schon denken mehr Israelis als sonst ans Auswandern. Die Zahl der Anträge bei der russischen Botschaft für eine Passverlängerung mit Blick auf eine Rückkehr nach Russland stieg deutlich an. Angesichts der Zuwanderung von einer Million Juden aus Osteuropa seit dem Fall des Eisernen Vorhangs bleiben die absoluten Zahlen gering, markieren allerdings einen für Israel ungewohnten Trend.
»Es gab viele Versäumnisse«, resümiert Oppositionsführer Benjamin Netanyahu. Man habe sowohl bei der Einschätzung der Gefahren als auch bei der Reaktion darauf versagt. Auch in Sachen Kriegsführung und an der Heimatfront habe es Versäumnisse gegeben, sagt der ehemalige Ministerpräsident. »Zweifellos werden wir unsere Lehren daraus ziehen müssen.«Ê
Bei einer Bürgermeisterkonferenz in Haifa ordnete Olmert am Montag die Einsetzung von zwei internen Untersuchungskommissionen an. Sie sollen Fehler beim Libanon-Feldzug untersuchen. Eine Kommission wird sich mit den Entscheidungen der Regierung, die andere mit dem Vorgehen der Militärs beschäftigen.
Olmert entschied sich nicht für eine so genannte Staatskommission mit einem Verfassungsrichter an der Spitze. Sie hätte große Vollmachten und das Recht gehabt, hochrangige Mitglieder von Regierung und Armee bei Fehlverhalten zu entlassen.
Genau das verlangten gestern Demonstranten vor dem Parlament in Jerusalem. Sie wurden verstärkt von Reservisten, die in einem dreitägigen Fußmarsch von Tel Aviv zur Knesset gezogen waren. Olmert werde Freunde in die Kommissionen setzen, hieß es unter den Protestlern, »und damit die gesamte Angelegenheit zu einem Witz werden lassen.«

Artikel vom 31.08.2006