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Nataschas Ansprüche
aufs Haus des Täters

Schadensersatzforderungen von mehr als 900 000 Euro

Wien/Bielefeld (dpa/WB/ca). Auch nach der ersten öffentlichen Stellungnahme von Entführungsopfer Natascha Kampusch und dem Tod ihres Peinigers ist der Fall noch lange nicht abgeschlossen.
Das Haus des Täters wird weiter von der Polizei bewacht.

Die Sonderermittler haben gestern die Untersuchungen am Tatort fortgesetzt. Die Spurensicherung vor Ort wird noch einige Tage andauern. Heute will die Polizei die Gespräche mit Natascha fortsetzen. »Es geht ihr ganz gut. Sie hat sich erholt«, sagte der Sprecher der Sonderkommission. Die junge Frau, die sich vergangenen Mittwoch nach acht Jahren aus den Händen ihres Entführers befreien konnte, hatte - wie ausführlich berichtet - in einem Appell an die Medien und an die Öffentlichkeit um Respekt vor ihrer Privatsphäre gebeten. »Lasst mir Zeit, bis ich selbst berichten kann«, schrieb die jetzt 18-jährige in einem Brief.
Die junge Frau, die sich noch an einem geheimen Ort aufhält und von einem Betreuerteam unterstützt wird, soll inzwischen angeblich von einem Medienmanager beraten werden. Ferner soll ein Anwalt in ihrem Namen Ansprüche auf jenes Haus geltend machen, in dem sie gefangen gehalten wurde. Dabei gehe es auch um Schadenersatzansprüche für erlittene seelische Qualen. Die Rede ist von etwa 300 Euro am Tag, was in Summe um die 900 000 Euro ausmachen würde. Außerdem könne auch die verlorene Schulzeit in Rechnung gestellt werden, hieß es.
Ihr nwalt sagte auch, sie erholte sich immer besser von den Strapazen des jahrelangen Martyriums und plane bereits ihre Zukunft. Die junge Frau wünsche sich eine Ausbildung. Der Jurist beschrieb die 18-Jährige als »zarte, sehr nette, gescheite Frau« und »intellektuell unheimlich talentiert«. Sie beschäftige sich vor allem mit Schreiben, Malen, Lesen, Reden.
Die damals zehnjährige Natascha Kampusch war 1998 auf dem Weg zur Schule entführt worden. Priklopil hielt sie in einem Verlies in seinem Haus in Strasshof knapp 20 Kilometer nordöstlich von Wien fest. Vor knapp einer Woche war der jungen Frau in einem unbeobachteten Moment die Flucht gelungen. Der Täter nahm sich wenige Stunden später das Leben.
Das unerwartete Auftauchen der acht Jahre vermissten Natascha hat unterschiedliche Auswirkungen auf Eltern, deren Kinder ebenfalls spurlos verschwunden sind. »Eine verbreitete Reaktion ist sicherlich, dass sich zunächst ein Hoffnungsschimmer auftut«, sagt Dr. Bruna Tuschen-Caffier, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Uni Bielefeld. In einem zweiten Schritt begriffen dann jedoch viele Eltern, dass die Wahrscheinlichkeit sehr gering sei, ähnliches zu erleben wie Nataschas Eltern. Zwar gebe es keine wissenschaftlichen Studien zu dieser Frage, doch wisse man aus der Traumaforschung, dass sich bei Betroffenen oftmals ein differenziertes Denken einstelle, das ihnen helfe, mit dem Erlebten klarzukommen. In Deutschland werden derzeit 475 Kinder bis 13 Jahre und 1330 Jugendliche vermisst. Die meisten tauchen nach kurzer Zeit wieder auf, nur etwa drei Prozent (etwa 55 Kinder und Jugendliche) bleiben dauerhaft verschwunden.

Artikel vom 30.08.2006