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Jaques Tati, Schauspieler

»Der größte Aberglaube unserer Zeit ist der Glaube an die Vorfahrt.«

Leitartikel
Opfer-Zahlen-Spiele

Sehr vieles folgt dem Gruseltrieb


Von Rolf Dressler
Der Mensch als solcher bleibt sich selbst ziemlich treu. Darauf zumindest kann man sich verlassen.
Eine ganz besondere Vorliebe zieht ihn - und wohl uns alle - immer wieder hin zu Riesenzahlen, zu Superlativen im Guten wie im Bösen. Denn gerade die oftmals offenkundige Übertreibung entfaltet magische Reize, ruft Außer-Rand-und-Band-Gefühle hervor. Je ekstatischer oder gruseliger - desto besser. Hauptsache, es prickelt so richtig schön gänsehauterzeugend und das betreffende Geschehen lässt sich im Unglücks- oder Katastrophenfall entspannt aus sicherer Entfernung verfolgen. Der Unterhaltungswert macht's.
Schon beim allerkleinsten Mini-Mangel in einem Kernkraftwerk tobt bei den Atomgegnern aus Prinzip sofort der Bär. Wir haben es ja immer gesagt: Weg mit dem Teufelszeug, abschalten, sofort!
Doch welchen tatsächlichen Schaden an menschlichem Leib und Leben richtet diese Energiegerwinnungstechnik eigentlich an im Vergleich mit anderen Bereichen, wo die Jahres-Opferzahlen in die Zehntausende, Hunderttausende und sogar in die Millionen gehen?
Praktisch niemand ereifert, erregt und empört sich zum Beispiel darüber, dass nach der nüchternen Welt-Jahresstatistik sage und schreibe 8000, 10 000 oder noch mehr Bergleute unter Tage elend zu Tode kommen.
Einen bislang einsam-traurigen Rekord darin verzeichnete China: In den dortigen Kohlegruben kamen allein im Jahr 2004 nicht weniger als 6027 Kumpel um. Verschüttet, erstickt, von Felsgestein erschlagen.
Die Opferzahl der nicht nur we- gen des »Restrisikos« so heftig befehdeten Kernenergie für das gleiche Jahr 2004 ist übrigens eine Ziffer: die Null (bzw. O). Das aber gibt für den Gruseltrieb na- türlich nicht so recht etwas her.
Ähnlich die öffentliche Nichtbeachtung der jedes Jahr zigtausenden Toten und hunderttausenden zusätzlichen Langzeit-Schwerst- und Schwerverletzten, Behinderten und Verkrüppelten, die - ob aus eigenem oder fremdem Verschulden - der alltäglichen »PS-Schlacht« auf den Straßen furchtbaren Tribut zollen müssen.
Dabei berühmen wir uns doch dafür, dass im Straßenverkehr Jahr um Jahr weniger Kinder und junge und ältere Erwachsene auf der Strecke bleiben. »Nur noch« 5361 waren es 2005 - ein zwiespältiger Erfolg im Gruselkabinett, aber eine Besserung immerhin, gemessen an den fast 21 000 Verkehrstoten heute vor 35 Jahren.
Auf 1,5 Millionen Verkehrstote kletterte inzwischen die Welt-Jahresstatistik, Tendenz rasch weiter steigend. Und jedes Einzelschicksal wiederum trifft schmerzvoll ungezählte trauernde Angehörige, Familien, Verwandte, Freunde.
Nur finden diese Schicksale keinerlei breitere Öffentlichkeit. Weder bei sonst stets so besonders besorgten Öko-Warnern wie den Anti-Kernkraftlern noch sonstwo.
Medienwirkung und Unterhaltungswert - das zählt.

Artikel vom 30.08.2006