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Soziales Gewissen der CDU

Trauer um Politiker Rainer Barzel - Verbindung nach Ostwestfalen nie abgerissen

Von Reinhard Brockmann
Paderborn/München (WB). Beinahe-Bundeskanzler aus Paderborn, jüngster »Elder Statesman«, soziales Gewissen der CDU und Ziehsohn des ersten NRW-Ministerpräsidenten Karl Arnold: Der am frühen Samstagmorgen in einer Münchner Klinik verstorbene Rainer Barzel (82) war Träger vieler Markenzeichen.

Barzel ist Ehrenbürger der Domstadt und war zu seinem 80. Geburtstag in Paderborn mit einer zweiten Feier, neben dem Festakt in München, geehrt worden. Aus Anlasss seines Todes wird es in der zweiten Septemberwoche in Berlin eine zentrale Trauerfeier geben.
Die am 27. April 1972 verpasste Chance, weil der DDR-Geheimdienst die Finger im Spiel hatte (siehe »Die Stasi verhindert Barzels Kanzlerschaft«), ist Brennpunkt seiner zeitgeschichtlichen Bedeutung. Die von bösen Mächten dem ambitioniertesten Oppositionsführer verwehrte Chance auf das höchste Regierungsamt hat Barzel aber nicht verbittert - zumindest nicht nach außen.
Immerhin: auf bohrende Journalistenfrage nach dem »Was wäre, wenn das Misstrauenvotum gegen Willy Brandt nicht gescheitert wäre«, ließ er auch im hohen Alter noch die schneidende Schärfe des Oppositionsführers erkennen. Kontrafaktische Fragen seien in der Politik so unsinnig wie die Aussage, nachts ist es kälter als draußen, beschied Barzel jene, denen er ein Interview gewährte. In Wahrheit wollte er bis zu seinem Tode über dies Kapitel nicht mehr reden.
Als Angela Merkel infolge der Kohl-Spenden-Affäre in Essen zur CDU-Vorsitzenden gewählt wurde, war er seit langem erstmals wieder zu einem Bundesparteitag der Union gekommen. Merkel gab er im Gespräch mit dieser Zeitung gute Wünsche mit auf den Weg, mahnte die Ostdeutsche aber zum Gespür für das soziale Empfinden auch im Westen und forderte seinen Erzfeind, Bundeskanzler Helmut Kohl, auf, »auf den Pfad der Rechtsstaatlichkeit zurückzufinden«.
Der Einser-Jurist wusste zeitlebens Begriffe zu setzen. In Ostpreußen geboren und geprägt von Jesuiten in Berlin trat er dem katholischen Jugendbund »Neu-Deutschland« bei. Nach Notabitur und Kriegsteilnahme studierte Barzel 1945 Jura und Volkswirtschaft in Köln. 1949 vertrat er NRW beim Bi-Zonen-Wirtschaftsrat in Frankfurt. Er arbeitete Ministerpräsident Karl Arnold und Carl Spieker, dem Vorsitzenden der Deutschen Zentrumspartei zu. Barzels zeitlebens sozialpolitischer Ansatz, christlich-links, wurde in dieser Phase entwickelt.
Im September 1957 begann eine 30jährige Bundestagskarriere, die prägend für Westdeutschland werden sollte. Als Abgeordneter für den Wahlkreis 104 (Paderborn-Wiedenbrück) begann sein Weg. Schon Anfang Dezember 1962 war Barzel kurzzeitig Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen und damit »Benjamin« in der fünften Regierung Konrad Adenauera. 1963 rückte er an die Spitze der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Von der Bundestagswahl 1965 an vertrat Barzel viermal den neu geschnittenen Wahlkreis 106 (Paderborn). Von 1980 bis 1987 zog er über die Landesliste NRW in den Bundestag ein. Dennoch blieb sein Kontakt zum Hochstift Paderborn überaus eng, auch weil die CDU im Kreis Paderborn ihren langjährigen Abgeordneten weiter die Treue hielt. Noch bei der Feierstunde zum 80. Geburtstag in der Münchner Residenz vergaß der Jubilar in einer kurzen Ansprache nicht, »meine mir stets treuen Paderborner« zu erwähnen.
In der großen Koalition von Herbst 1966 an entwickelte Barzel über allen politischen Gegensätze hinweg ein Arbeits- und Respektsverhältnis zum SPD-Fraktionsvorsitzenden Helmut Schmidt, das bis ins hohe Alter Bestand hatte. Karl Feldmeyer von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beobachtete, dass die damalige große Koalition wohl nicht von Kurt-Georg Kiesinger und Willy Brandt geführt worden sei, sondern vom Gespann Schmidt/Barzel.
Gegen die folgende erste sozial-liberale Koalition baute Barzel eine starke Position auf, auch indem Herbert Hupka und andere in die Unionsfraktion wechselten Als er 1971 Dauer-Konkurrent Kohl den CDU-Vorsitz wegschnappte, war Barzel stark wie nie, aber eben immer noch nicht an der Macht.
Das verpasste Misstrauensvotum im folgenden April markierte zugleich den Zenit seiner Laufbahn. Die Annahme der von Bahr und Brandt ausgehandelten Ostverträge, das große politische Thema dieser Zeit, konnte Baarzel in der Union nicht durchsetzen. Kontrahent Franz Josef Strauß rang der Modernisierer allein die Enthaltung der Bürgerlichen ab.
Selbst das Amt des Bundestagspräsidenten 1983/84 brachte Brazel keine Genugtuung mehr. Er konnte den Verdacht, Flickparteispenden hätten seine politische Arbet beeinflusst, nicht aus der Welt räumen. Der Konzern hatte seinerzeit an eine Kanzlei, für die auch Barzel tätig gewesen war, 1,7 Millionen D-Mark überwiesen.

Artikel vom 28.08.2006