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Die unbekannte Großstadt am Westrand des Urals
In der baschkirischen Hauptstadt Ufa ticken die Uhren ein wenig anders
Lebensqualität ist oft nicht auf den ersten Blick sichtbar. Zum Beispiel Ufa: Die Hauptstadt der russischen Teilrepublik Baschkirien ist auch mehr als zehn Jahre nach der Wende ein sowjetisches Monstrum, in dem Plattenbauten, Lenin-Bilder und sozialistische Protzarchitektur den Ton angeben. Doch hinter den Kulissen verbirgt sich eine durchaus lebenswerte Stadt.
So empfinden es nicht nur die Familien, die seit jeher dort ansässig sind. Auch Zuwanderer wie die deutschen Bierbrauer und Angestellte der Energiewirtschaft haben für die Stadt am westlichen Rand des Urals lobende Worte parat. Sicher sei sie, biete viel Grün und gute Unterhaltungsmöglichkeiten.
Die Geschäftsleute, die dienstlich nach Ufa reisen müssen, erwartet auch die Gastfreundschaft der Baschkiren. Und es gibt eine Vielzahl von Wirtschaftskontakten: die Republik gehört zu den wirtschaftsstärksten Russlands, dank Öl und Gas herrscht hier (für russische Verhältnisse) relativer Reichtum - und demzufolge Aufbruchstimmung. Freilich nutzen die Menschen das Geld nicht, um ihre Stadt aufzuhübschen, sondern bauen sich lieber am Rande eine große Villa, die sie - leicht untertreibend - als Datscha bezeichnen.
Wer mit Nischenanbietern wie dem Forum »Russische Kultur« aus Gütersloh nach Ufa an das Ural-Gebirge reist, der legt also in erster Linie Wert auf persönliche Kontakte zu den Einheimischen. Etwa zu dem traurigen Maler Alexej, dessen Tochter und Schwiegersohn bei einem Autounglück starben und dessen Bilder daraufhin von Ausstellungsmachern als »zu düster« abgelehnt wurden, der seiner Stadt aber ein liebevolles Portrait der wenigen verbliebenen alten Häuser widmet. Da ist der Deutschlehrer, ein stiller, tiefgründiger Mann, dessen Lebensinhalt die Kultur ist. Oder Aleksandra, die Black Metal Musik über alles liebt, sich niemals wie andere russische Mädchen aufdonnern würde und stattdessen meist in Schwarz geht -Êaber Heine, Kästner und Grass auf deutsch liest. Oder die jungen Jazzmusiker, die Gene Krupa und Miles Davis lieben, aber zum Geldverdienen auch Hits von Kylie Minogue intonieren müssen - und diese Aufgabe mit dem Anspruch erfüllen, besser als das Original zu sein. Oder Olga und Raissa vom deutschen Klub in Ufa, die der kulturellen Vielfalt von Baschkirien einen exotischen Farbtupfer verleihen. Sie sind es, die Ufa zu einem lohnenswerten Reiseziel machen, wenn man denn offen ist, auf Fremde zuzugehen und sie alsbald auch ins Herz zu schließen.
Ach ja, und dann ist da noch die Straße der Oktoberrevolution. Eine Straße, wie keine andere in Ufa. Hier wird nicht dem Sozialismus gehuldigt, vielmehr wirkt sie - Ironie des Schicksals - wie ein Freilichtmuseum der russischen Architektur früherer Jahrhunderte. Manche Häuser dort haben schon gestanden, als Peter der Große noch Zar von Russland war.
Man darf freilich nicht mit dem Bus dort entlang fahren, sondern sollte gemütlich zu Fuß gehen, ein ums andere Mal den abenteurlich ramponierten Bürgersteig verlassen und auf die andere Straßenseite wechseln. Abblätternde Farbschichten an den Fenstern, wuchtige Baumstämme als Hausfassade, zartgliedrige Schnitzereien als Hausschmuck, eine zufrieden schnurrende Katze im Fenster, ein ausgeschlachteter Lada im wild überwucherten Garten, Gipsreliefs und kunstvoll gestaltete Ziegelwände -Ê und niemand, der sich an neugierigen Touristen stört, obwohl sie dort nun wirklich selten sind.
Aber das neue Selbstbewusstsein der Baschkiren verbietet es, sich wie seinerzeit in der Sowjetepoche westlichen Ausländern anzubiedern. Und so wandert man durch die Straße der Oktoberrevolution, als würde man sich in einem x-beliebigen Dorf in der Steppe, Taiga oder Tundra befinden.
Und, ehrlich gesagt, mehr ist Ufa auch nicht -Êtrotz seiner mehr als einer Million Einwohner. Thomas Albertsen

Artikel vom 02.09.2006