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Maxim Gorkij

»Der Mensch trägt selbst die Kosten für alles. Und darum ist er - frei.«.

Leitartikel
Wahrnehmung und Realität

Manches
ist so
lausig falsch


Von Rolf Dressler
WM-Deutschland, das war gestern, vorgestern eigentlich schon. Tag um Tag immer rascher entschwindet die Insel der Fußball-Sommer-Glückseligkeit am Horizont. Denn einige düstere Wolken ziehen auf. Da hat es selbst die Konjunktursonne schwer, die uns nach einer ziemlich langen Durststrecke normalerweise mit Freunde erfüllen und die Schaffenskräfte kräftig beleben sollte.
Indes, »wir«, die sprichwörtlich Deutschtypischen, wären nicht wir, würden wir heraufdrohende Unbill nicht möglichst beiseiteschieben, solange es geht.
Dabei fliegen nun auch im traditionell bleihaltigen riesigen Kongo schon wieder die Fetzen, wo ein Häuflein deutscher Soldaten mühsam mithelfen soll, den brüchigen inneren Frieden einigermaßen zu bewahren. Wie am Hindukusch in Afghanistan, auf dem Balkan und womöglich bald sogar an der Pulverfass-Linie zwischen Israel und »heiligen (Hisbollah-) Kriegern«.
Mit Macht drängt seit neuestem Italien darauf, die geplante UN-Friedenstruppe im Libanon zu führen. Wahrscheinlich ist auch das mit ein Grund dafür, dass die deutsche Öffentlichkeit noch gar nicht wirklich erfasst bzw. wahrhaben will, welche Tragweite die Beteiligung unserer Truppen an immer gefährlicheren Auslandskrisen-Einsätzen tatsächlich hat.
Und sehr konkret ist noch et- was anderes bemerkenswert. Obwohl die heimischen Staatskassen notorisch angespannt sind und in vielem längst sträflich überstrapaziert werden, scheinen die gewaltig wachsenden Steuergeldlasten für die Entsendung deutscher Truppen kaum jemanden in der breiten Bürgerschaft zu beschäftigen. Zwar gibt die Bundesregierung darüber auf parlamentarische Anfragen bereitwillig und korrekt Auskunft. In öffentlichen Debatten spielt dieses handfeste Problemthema aber so gut wie keine Rolle. Man lässt die Politik(er) machen, wendet sich vermeintlich Wichtigerem zu. Als unbehaglicher wird da schon der weltbrandgefährliche islamistische Terror empfunden.
Ablenkung suchen viele derweil bei der Reizfigur Günter Grass. Doch selbst ihm wohlgesonnene Medien greifen zu Ironie und Witzelei wie etwa die »Süddeutsche Zeitung«: Grass habe »seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS nie verborgen - er hat sie nur offensiv verschwiegen...«
Den Vogel abgeschossen aber hat Peter Lange, Kulturressortchef des Deutschlandradios. Er meint: Nur wenn sich klar beweisen lasse, dass Grass jemals auf die Frage »Waren Sie in der Waffen-SS?« mit »Nein!« geantwortet hätte, wäre ihm das 60 Jahre lange Stillschweigen vorzuwerfen. Doch wenn absolut niemand, ob Journalist, Historiker oder Biograph, je so gefragt habe, habe die Öffentlichkeit keinerlei Recht auf eine moralische Verurteilung...
Diese wahrlich umwerfende Argumentation erinnerte den Publizisten Wolf Lotter an ein geflügeltes Wort des großen Karl Kraus:
»Es gibt Sachen, die so falsch sind, dass man nicht einmal ihr Gegenteil beweisen kann.«

Artikel vom 23.08.2006