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Grenze des Erträglichen

»Der freie Wille« - Kritik zwischen Ablehnung und Zuspruch


Kein zweiter deutscher Spielfilm der letzten Jahre provoziert derart heftig Pro und Contra wie »Der freie Wille«. Anlässlich der Aufführung während der diesjährigen Internationalen Filmfestspiele Berlin gab es Zuspruch, am Ende gar einen Silbernen Bären der Jury, aber auch Ablehnung und Unverständnis.
Regisseur Matthias Glasner bietet harte Kost, geht bis an die Grenze des Erträglichen. Der fast drei Stunden dauernde düstere Film beginnt mit einer mehrminütigen Vergewaltigung. Gnadenlos hält die Kamera auf den Täter Theo (Jürgen Vogel) und sein Opfer, eine namenlose junge Frau (Anna Brass). Nach Aussage des Regisseurs, der auch am Drehbuch mitarbeitete, ist diese quälend lange Sequenz notwendig, »um das Schreckliche einer solchen Tat und zugleich Theos Ängste verstehen zu können«.
Die eigentliche Handlung setzt ein, wenn Theo Jahre später aus der Haft entlassen wird. Er kommt in einer betreuten Wohngemeinschaft in einer mittelgroßen Stadt unter, findet Arbeit in einer Druckerei. Schnell wird klar: Theo lebt in ständiger Furcht, vor sich selbst, vor Frauen, vor einem möglichen Rückfall. Die Liebe zu Netti (Sabine Timoteo), der Tochter seines Chefs (Manfred Zapatka), könnte einen Weg aus der Hölle weisen. Doch die junge Frau ist ebenfalls psychisch labil, und eine Katastrophe erscheint unausweichlich. So wie der Film die Beziehung zwischen Tochter und Vater zeigt, umreißt er vage den Missbrauch der Tochter, ohne es direkt auszusprechen oder gar in Bildern zu zeigen. In zahlreichen Momentaufnahmen zeigt der Film, dass unsere Gesellschaft gleichsam übersexualisiert ist: Werbung und Mode, Film und Presse, so die Lesart, die der Film offeriert, bieten eine andauernde Reizüberflutung. Davon umgeben, kämpft Theo gegen sich selbst, das Grauenvolle in sich. Problem: Alles bleibt Andeutung, es gibt keine wirkliche filmische Diskussion. Besonders schwierig ist in diesem Zusammenhang das Ende, in dem Theos Verzweiflung zu einer entsetzlichen Erlösung führt, die in eindeutig von religiösen Mythen inspirierten Bildarrangements vorgeführt wird. Da wird, was vorher dank strenger Kamera und exzellenten Schauspiels wirklich Kunst ist, zu Kunstgewerbe.

Artikel vom 24.08.2006