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Schmerz und Abschied

Der Friedhof - Eine Reise in die Vergangenheit

Ein Spaziergang über einen älteren Friedhof ist auch ein Streifzug durch die Kultur- und Sozialgeschichte vergangener Jahrhunderte. Grabinschriften und Denkmäler erinnern mit ihrer Symbolik an Werte und Normen unserer Vorfahren und lassen versunkene Gesellschaftsbilder lebendig werden.
Die Engelsfigur als Grabmal - ein für die bürgerliche Trauerkultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts weit verbreitetes Symbol für Schmerz, Abschied und Trauer.Foto: CMA
Ursprünglich war die Grabplastik eine Erinnerungsform, die ausschließlich Angehörigen der Oberschicht bei deren Bestattung in der Kirche zustand. Mit dem Aufstieg des Bürgertums zum gesellschaftlichen Machtfaktor in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstand eine neue Form der bürgerlichen Trauerkultur. Sie enthielt Elemente christlicher Traditionen, privater Emotionalität und gesellschaftlichen Geltungsdrangs. Auch im Tod wollte das Bürgertum das gestiegene gesellschaftliche Prestige demonstrieren. Auf den Friedhöfen äußerte sich dies unter anderem in repräsentativen Begräbniszeremonien und pompösen Grabdenkmälern mit symbolbeladenen Skulpturen. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg blickten Heerscharen von Engeln von ihren Sockeln huldvoll auf die Trauernden und die Friedhofsbesucher.
Zu einer Zeit, in der das Ideal des bürgerlichen Individuums propagiert wurde, stand die individuelle Lebensleistung der Verstorbenen auch nach dem Tod im Rampenlicht. Porträts von Fabrikanten, Professoren oder von Beamten auf Grabsteinen waren im bürgerlichen Zeitalter gang und gäbe. Gemäß der damaligen gesellschaftlichen Rollenverteilung spielte die Frau bei den Darstellungen nur eine untergeordnete Rolle. Frauengestalten auf Grabdenkmälern sind selten identifizierbaren Personen zuzuordnen. Für diese Zeit sind anonyme Frauenfiguren charakteristisch, die in der typisierten Gestalt der »Trauernden« gefühlvoll die Motive Schmerz und Abschied verkörperten und die bürgerlichen Werte der Familie symbolisierten.
Auffallend ist der populäre Engelskult des 19. Jahrhunderts, der das Bild der Friedhöfe dieser Zeit stark geprägt hat. Engel waren ursprünglich himmlische Wesen; sie dienten als Mittler zwischen Himmel und Erde und waren die Boten Gottes. Seit dem Barock verherrlichten Engel in der Grabmalsymbolik zunehmend irdische Persönlichkeiten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden Engelsfiguren mehr und mehr zu dekorativen, aber inhaltslosen Schmuckstücken auf Gräbern. Ähnlich der Figur der »Trauernden« verkörperten sie Schmerz und Abschied, aber auch Trost. Während des Ersten Weltkrieges erreichte der Engelskult den Höhepunkt der Verweltlichung. Engelsfiguren auf Grabsteinen und Kriegerdenkmälern wurden zu einem beliebten Motiv, um das sinnlose Massensterben auf den Schlachtfeldern symbolisch abzumildern.
Weitere im 19. Jahrhundert sehr beliebte Grabmalsymbole waren die gesenkte Steinfackel, das Stundenglas sowie die Steinurne als Aufsatz von Grabsteinen. Die Fackel versinnbildlicht das erloschene Leben, das Stundenglas oder die Sanduhr misst die verrinnende Zeit und symbolisiert die Vergänglichkeit und die Kürze des Lebens. Ebenso verbreitet war das Motiv der an einer Urne trauernden Engel und Frauen. Die Urne stand stellvertretend für die Asche, die als gereinigte Materie eines Verstorbenen angesehen wurde. Erlöschende Kerzen symbolisierten das Aushauchen des Lebenslichtes. Musikinstrumente erinnerten an die Vergänglichkeit des irdischen Lebens, das flüchtig ist wie der Schall.
Besonders in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg erreichte der Grabkult ungeahnte Dimensionen. Immer üppiger gestaltete Grabdenkmäler im Stil des Historismus mit seinen neobarocken, neogotischen oder neoklassizistischen Ausprägungen schmückten die Grabstätten. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung um 1900 in der Vielzahl der Mausoleen, die gleich kleinen Villen die Hauptwege der Friedhöfe zierten. Ursprünglich dem Adel vorbehalten, spiegelten sie Besitz, Reichtum, Macht und Ansehen der in ihnen bestatteten, oft bürgerlichen Persönlichkeiten und ihrer Familien. Diese von vielen Gesellschaftskritikern der damaligen Zeit als »Hochmuts- oder Millionenallee« gebrandmarkten Grabstätten standen oft in eklatantem Kontrast zu den schlichten Gräbern der dritten oder vierten Reihe. Heute legen sie ein eindrucksvolles Zeugnis der Vergangenheit ab.

Artikel vom 28.10.2006