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Der »kontrollierte«
Umgang mit dem Tod

Moderne Gesellschaft verdrängt Trauer

Jede Gesellschaft hat unterschiedliche Formen entwickelt, um mit dem Tod umzugehen. Die jeweilige Trauerkultur ist eingebettet in sozial- und kulturhistorische Strömungen und spiegelt gesellschaftliche Veränderungen wider.Das Kreuz steht als Zeichen für neuen Mut. Friedhöfe sind nicht nur Begräbnisplätze, sie dienen auch den Hinterbliebenen, sind Orte der Ruhe, des Trostes, der Erinnerung.Foto: CMA
In der christlich geprägten abendländischen Gesellschaft lassen sich drei Zäsuren in der Trauerkultur erkennen: durch die Reformation zu Beginn der Neuzeit, durch die zunehmende Bürokratisierung und Technisierung im 19. Jahrhundert und durch das Entstehen neuer Trauerformen gegen Ende des 20. Jahrhunderts.
Im Mittelalter führte die Anlage der Gräber auf dem Kirchhof, der auch Schauplatz des täglichen Lebens war, dazu, dass die Toten ständig in der Gegenwart der Lebenden waren. Mit den Umbrüchen infolge der Reformation, begann im 16. Jahrhundert der »moderne« Umgang mit dem Tod: Auch wenn der Tod noch zum täglichen Leben gehörte - Hungersnöte, die Pest, Kriege, eine hohe Säuglingssterblichkeit und der Tod im Kindbett waren allgegenwärtig - die Einstellung zum Tod änderte sich signifikant. Stand früher das Bemühen, die Verstorbenen auf ihrer Reise ins Jenseits zu unterstützen, im Vordergrund, nahm jetzt die Erinnerung an das Leben der Toten einen größeren Platz ein. Zudem entstanden auch aus Platzgründen viele neue Begräbnisorte weitab der Kirchen - die Gräber verschwanden aus dem täglichen Blickfeld.
Parallel zum Gedankengut der Aufklärung, in dem das Individuum im Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit stand, wurde das Totengedenken individualisiert. Grabinschriften, die ausführlich das Leben des Verstorbenen würdigten, kamen in Mode. Als Zeichen des sozialen Prestiges wurden öffentliche Leichenzüge durchgeführt und prächtige Grabdenkmäler gestaltet. Friedhöfe sollten nicht nur Begräbnisplätze sein, sondern auch den Hinterbliebenen dienen und ihnen ein Ort der Ruhe, des Trostes und der Erinnerung sein. Der Schwerpunkt verschob sich von den Toten zu den Lebenden.
Mit den ersten Krematorien in Deutschland um 1870 wurde eine Technisierung der Bestattungspraxis in Gang gesetzt, die bis heute nachwirkt. Der Verstorbene wurde ganz aus dem familiären Umfeld genommen, da Aufbahrung, Trauerfeier und Einäscherung, manchmal sogar die Beisetzung an einem Ort stattfanden. Die Friedhofs- und Grabmalreform zu Beginn des 20. Jahrhunderts ebnete den Weg für eine uniformere Gestaltung der Friedhöfe und wandte sich gegen den Persönlichkeitskult des bürgerlichen Zeitalters. Sachliche Funktionalität, Effizienz und die Orientierung an Reißbrettentwürfen des modernen Städtebaus standen im Vordergrund. Die gestalterischen Auswirkungen dieser Reform sieht man den Friedhöfen bis in die heutige Zeit an. Veränderungen der Bestattungsgesetze und der Friedhofsverordnungen zugunsten von mehr Individualität kommen jedoch langsam in Gang.
Trauer ist heutzutage in den Städten fast ganz aus dem öffentlichen Bereich gedrängt worden. Getrauert wird im Familien- oder engen Freundeskreis, im Alltag ist offenkundige Trauer häufig nicht lange erwünscht. Durch die Bürokratisierung der Totenfürsorge und der Bestattung ist auch im privaten Bereich die räumliche Distanz zu den Verstorbenen sehr groß. In der modernen Gesellschaft fehlt es vielfach an konkreter Erfahrung und Sprache im Umgang mit dem Tod - seine Tabuisierung ist die Folge. In dörflichen Gemeinden sieht die Situation bis heute etwas anders aus, da hier das soziale Netzwerk und die damit verbundenen Traditionen noch stärker wirken.
Seit den 1990er Jahren findet in den Städten eine Neuorientierung der Trauerkultur statt; eine Abkehr von althergebrachten, gemeinschaftsbezogenen, aber mittlerweile oft als sinnentlehrt wahrgenommenen Riten ist zu beobachten. Nicht zuletzt Aids hat Tabus im Umgang mit dem Tod gebrochen und neue Wege in der Trauerkultur gezeigt. Aids hat dazu geführt, dass auch junge Menschen in ihrem Umfeld häufiger mit dem Tod und der Gewissheit ihres bevorstehenden Begräbnisses konfrontiert werden. Bewusste Planungen der eigenen Bestattung sowie symbolträchtige Rituale am Grab sind heute keine Seltenheit mehr. Trauer wird wieder öffentlich gezeigt.
Andere Länder, wie etwa die Niederlande mit erlaubter Hausaufbahrung, dienen als Vorbilder für innovative Modelle des Abschiednehmens und der Trauerbewältigung. Änderungen der Bestattungsgesetze erlauben mittlerweile eine individuellere Begräbnis- und Grabgestaltung. Die Entritualisierung der Trauerkultur führt zu sehr individuellen Begräbnisfeiern in Privaträumen oder bei Bestattern, zu persönlich gestalteten Särgen, zu kreativem Blumenschmuck oder zu ungewöhnlichen Grabdenkmälern, die das Erscheinungsbild des Friedhofs verändern. Hinter diesen neuen Formen steht der Wunsch nach einem Begräbnis, das individuell sein soll wie das eigene Leben und die jeweilige Persönlichkeit des Verstorbenen über den Tod hinaus widerspiegelt.

Artikel vom 28.10.2006