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Hinter verstaubten Briefen

Vikram Seth über seine deutsch-jüdische Tante Henny

Von Bernhard Hertlein
London (WB). Schnelle Schnitte, rasche Wechsel, galoppierender Rhythmus: Keiner hat mehr Zeit - weder im Leben noch im Film noch in der Musik und leider häufig auch nicht in der Literatur. Eine Ausnahme ist der angloindische Autor Vikram Seth (54). Sein jüngster Roman ist mit 550 Seiten eher klein.
Vikram Seth zwischen Indien und deutscher Geschichte.

Für den, der sich die Zeit nimmt, gibt es nichts Spannenderes als auf verstaubten Dachböden in allen Kisten und Koffern nach vergessenen Dokumenten, Aufzeichnungen und Briefen zu stöbern. Behutsam bläst Seth in seinem neuen Roman »Zwei Leben« Staub von vergilbten Fotos und Papieren. Dabei gewinnen die beiden Hauptpersonen Schritt für Schritt Kontur. Immer vertrauter werden Shanti, Seths indischstämmiger Onkel, und dessen deutsche Frau Henny. Und Schritt für Schritt werden die »Zwei Leben« Teil der eigenen - deutschen - Geschichte.
Vikram Seth verschlägt es in jungen Jahren zum Studium nach Großbritannien. In London wohnt er bei seinem Onkel Shanti, der selbst in Berlin Zahnmedizin studiert hat und mit einer deutsch-jüdischen Frau verheiratet ist. Im Zweiten Weltkrieg, in dem er als Arzt von den Briten in Nordafrika und in Italien eingesetzt wird, verliert er den rechten Arm. Trotzdem schafft er den Neuanfang und arbeitet sogar mit Hilfe einer Prothese nach einiger Zeit wieder als Zahnarzt.
Mehr noch als das Leben Shantis interessiert den deutschen Leser die Geschichte von Henny. Weil Seth zu Lebzeiten versäumt hat, der Frau die richtigen Fragen zu stellen, muss er später für das Buch alles mit Hilfe alter Briefe rekonstruieren. An diesem Prozess hat der Leser Anteil. Auf dem Weg werden neben den zwei Leben viele Charaktere wieder lebendig. Hennys Schwester beispielsweise und ihre Mutter, über die alle nur Gutes reden und die trotzdem von den Nazis in die Gaskammer geschickt wurden. Hans, der sich von Henny lossagte und eine Katholikin heiratete. Hennys Bruder, der alles für seine Flucht zusammenrafft und dem das Schicksal der Verwandten offenbar gleichgültig war. Freundinnen und Freunde, die nach dem Holocaust von der Schuldfrage gequält werden. Und andere, die sich nur beklagen, dass das Leben für sie in Deutschland nach dem verlorenen Krieg so schwierig geworden sei. Und die vielen, die an beidem Anteil haben - die in der Situation halfen und ein anderes Mal schuldig wurden.
Seth, der einer anderen Generation und einem anderen Kulturkreis angehört, nähert sich dem schrecklichsten Kapitel der deutschen Geschichte aus großer Distanz. Gerade das macht sein Buch so ergreifend. Indien steht im Mittelpunkt der nächsten Frankfurter Buchmesse. Dieses Buch sollte nicht nur jeder Literaturliebhaber lesen.
VIKRAM SETH: Zwei Leben, 533 S., S. Fischer Verlag, 22,90 Euro.

Artikel vom 23.08.2006