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Mrs. Staveley war in London, aber als es zu Ende ging, kam sie zurück und hat die Pflege übernommen. Mr. Boyde war auch oft da, ich glaube, hauptsächlich, weil er mal Priester war. Von uns Frauen haben fast alle bei der Pflege mitgeholfen, und während des letzten Monats hat Dan kaum noch gearbeitet. Ich glaube, er fand seine Mutter am Ende abstoßend. Nachdem Mrs. Padgett gestorben war, hab ich im Cottage sauber gemacht. Mrs. Staveley hatte sie aufgebahrt, und sie lag auf dem Bett und sollte später runter zum Hafen gebracht werden. Dan sagte, er hätte gerne eine Strähne von ihrem Haar, und ich hab für ihn einen Umschlag geholt, wo er die reintun konnte. Er hat ihr die Haare fast ausgerissen, und ich hab den Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen, der war weiß Gott alles andere als liebevoll.
Ich glaube er hat seine beiden Eltern abgelehnt, und das ist doch wirklich traurig. Er hat mir erzählt, dass sie eigentlich recht wohlhabend waren. Sein Dad hatte eine kleine Firma - Druckerei, hat er gesagt, meine ich -, die er wiederum von seinem Vater geerbt hatte. Aber er war kein guter Geschäftsmann. Er hat einen Partner mit ins Geschäft genommen, der ihn übers Ohr gehauen hat, und die Firma ist Pleite gegangen. Und dann hat er Krebs bekommen - genau wie Dans Mutter, nur bei ihm war es die Lunge - und ist gestorben, und sie haben festgestellt, dass er nicht mal eine Lebensversicherung hatte. Da war Dan erst drei, deshalb erinnert er sich eigentlich nicht an seinen Dad. Dan und seine Mutter sind dann zu ihrer älteren Schwester und deren Mann gezogen. Die beiden hatten keine eigenen Kinder, deshalb sollte man meinen, sie hätten den Jungen ins Herz geschlossen, aber weit gefehlt. Sie gehörten einer dieser puritanischen Sekten an, für die alles Sünde ist, was Spaß macht. Sie haben ihn sogar dazu gebracht, einen anderen Namen anzunehmen. Er wurde Wayne getauft, Daniel ist eigentlich sein zweiter Name. Er hatte eine fürchterliche Kindheit, und danach ist für ihn irgendwie immer alles schief gelaufen. Sein Onkel hat ihm das Zimmermannshandwerk und Malen und Tapezieren beigebracht - Dan ist handwerklich sehr geschickt. Aber er war nie ein Insulaner und wird es auch nie sein. Natürlich hat er mir nicht gleich alles über seine Kindheit verraten. Das kam Stück für Stück über die Monate hinweg. Genau wie Sie sagten, wir brauchen alle jemanden, mit dem wir reden können.«
Dalgliesh sagte: »Aber wieso bleibt er dann noch hier, nachdem seine Mutter gestorben ist?«

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nein, er wird nicht bleiben. Seine Mutter hat ihm das bisschen Geld vermacht, das sie zusammengespart hat, und er hat vor, nach London zu gehen und irgendwas zu studieren. Ich glaube, an einer dieser neuen Universitäten. Er kann es kaum erwarten, hier wegzukommen. Offen gestanden, ich glaube nicht, dass unser früherer Verwalter ihn genommen hätte. Aber Mr. Maycroft war neu, und er hatte zwei freie Stellen, eine für einen Inselwart, und die andere für eine Frau, die Mrs. Burbridge zur Hand gehen sollte. Wenn Dan geht, muss er die Stelle wieder neu besetzen - das heißt, wenn die Insel so weitergeführt wird.«
»Spricht denn etwas dagegen?«
»Na ja, man hört so einiges. Selbstmord schreckt die Leute ab, nicht wahr? Und Mord natürlich auch. Aber man bringt doch niemanden um, bloß weil er manchmal Ärger macht. Außerdem blieb Mr. Oliver immer nur vierzehn Tage, er wäre also in weniger als zwei Wochen wieder weg gewesen. Also, wenn er ermordet wurde, dann muss irgendjemand unbemerkt auf die Insel gelangt sein, was wir immer schlechterdings für unmöglich gehalten haben. Und wie ist er wieder weggekommen? Würde mich nicht wundern, wenn er noch hier ist, sich irgendwo versteckt hält. Kein schöner Gedanke, nicht?«
»Und was ist mit Millie? Die hat Mr. Maycroft doch auch eingestellt, oder?«
»Ja, aber ich glaube, da hatte er praktisch keine andere Wahl. Jago Tamlyn hat sie in Pentworthy bettelnd auf der Straße aufgelesen, und irgendwie hat ihm das Mädchen Leid getan. Er hat ein weiches Herz, unser Jago, besonders für junge Leute. Er hatte eine Schwester, die hat sich aufgehängt, nachdem sie von einem verheirateten Mann verführt und geschwängert worden war. Vielleicht sieht Millie ihr ein bisschen ähnlich. Also hat er Mr. Maycroft angerufen und ihn gefragt, ob er sie auf die Insel mitbringen darf und ob sie so lange irgendwo wohnen und arbeiten könnte, bis er einen Weg gefunden hat, wie es mit ihr weitergehen soll. Sonst würde sie bestimmt bald mit der Polizei zu tun haben. Also hat Mr. Maycroft gesagt, sie soll Mrs. Burbridge bei der Wäsche helfen und mir in der Küche. Im Großen und Ganzen ist Millie in Ordnung. Sie ist tüchtig, wenn sie will, und ich kann mich nicht beschweren. Trotzdem, ein so junges Mädchen gehört nicht auf die Insel. Sie braucht Umgang mit Gleichaltrigen und einen richtigen Arbeitsplatz. Millie ist mehr mit der Näherei beschäftigt als bei mir in der Küche, und ich weiß, dass Mrs. Burbridge sich Sorgen um sie macht. Andererseits ist es ja auch nett, mal ein bisschen junges Blut auf Combe zu haben.«

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ate fragte unverblümt: »Wie sind Sie mit Miranda Oliver zurechtgekommen, Mrs. Plunkett? Ist sie genauso schwierig wie ihr Vater?«
»Sie ist jedenfalls kein einfacher Mensch. Kritik geht ihr leichter über die Lippen als ein Dankeschön. Doch sie hat es auch nicht einfach gehabt, die arme Frau. Sie war an ihren recht betagten Vater gebunden, musste nach seiner Pfeife tanzen. Mrs. Burbridge hat mir erzählt, dass sie sich mit dem Sekretär ihres Vaters verlobt hat. Dennis Tremlett. Den haben Sie natürlich auch schon kennen gelernt. Wenn sie das wirklich will, dann wünsche ich den beiden, dass sie glücklich werden. An Geld wirdÕs ihnen ja wohl nicht fehlen, und das ist immer eine gute Voraussetzung.«
Kate sagte: »Hat die Verlobung Sie überrascht?«
»Bis heute Morgen hatte ich keine Ahnung davon. Ich hab die beiden einfach zu selten gesehen, um mir über sie oder ihn eine Meinung zu bilden. Wie gesagt, wir sollen die Gäste in Frieden lassen, und das tu ich auch. Wenn sie in die Küche kommen möchten, ist das was anderes, aber ich suche nicht von mir aus Kontakt zu ihnen. Dafür hab ich auch gar nicht die Zeit. Ich würde nicht viel geschafft kriegen, wenn in meiner Küche ein ständiges Kommen und Gehen herrschte.«
Letzteres sagte sie leichthin, anscheinend ohne damit bewusst etwas andeuten zu wollen, doch Kate warf Dalgliesh einen Blick zu. Er nickte. Es war ein guter Zeitpunkt zu gehen.

K
ate hatte einiges zu erledigen. Sie verabschiedete sich, um Benton zu treffen, und Dalgliesh kehrte zum Seal Cottage zurück, wo er auf den Anruf von Dr. Glenister warten wollte. Mrs. Plunketts Äußerungen waren aufschlussreicher gewesen, als ihr womöglich selbst klar war. Erneut hatte er von Olivers Plan erfahren, sich dauerhaft auf Combe niederzulassen und von der Tragweite dieser Entscheidung für die Inselbewohner. Das war für diese nicht nur eine Unannehmlichkeit, sondern eine Katastrophe, vor allem für Emily Holcombe. Und da war noch etwas. Er hatte das nagende Gefühl, dass Mrs. Plunkett ihm bei all der vertraulichen Plauderei etwas erzählt hatte, das von entscheidender Bedeutung war. Der Gedanke war wie ein störendes Stück Faden in seinem Kopf; wenn er nur ein Ende zu fassen bekäme, würde das Knäuel sich entwirren und ihn zur Wahrheit führen. Im Geiste ließ er ihr Gespräch Revue passieren: Dan Padgetts traurige Kindheit, Millie bettelnd auf den Straßen von Pentworthy, der Industrieboss und seine Schmalzstullen, Olivers Streit mit Mark Yelland. Da lag der Faden irgendwo versteckt. Er beschloss, sich das Problem fürs Erste aus dem Kopf zu schlagen und darauf zu hoffen, dass er früher oder später klarer sehen würde.
Gegen Mittag klingelte das Telefon. Dr. Glenisters Stimme klang kräftig, ruhig, autoritär und so sicher, als läse sie von einem Manuskript ab. »Nathan Oliver ist infolge manueller Strangulation erstickt, als er erwürgt wurde. Die inneren Verletzungen sind erheblich. Der vollständige Obduktionsbericht muss noch getippt werden, aber sobald er fertig ist, erhalten Sie ihn per E-Mail. Einige innere Organe werden noch genauer untersucht, doch sonst gibt es eigentlich kaum etwas, was wichtig wäre. Körperlich war er für einen Achtundsechzigjährigen in ziemlich guter Verfassung. In der rechten Hand hatte er starke Arthritis, was ihn beim Schreiben behindert haben muss -, und der leichten Hornhaut am Zeigefinger nach zu schließen, hat er das viel getan. Die Knorpel waren verkalkt, wie das bei älteren Menschen nicht ungewöhnlich ist, und das Zungenbein oberhalb der Schilddrüse ist gebrochen. Ein solcher Bruch wird immer nur durch lokal ausgeübten Druck verursacht, durch einen kräftigen Griff. In diesem Fall war nicht mal besonders viel Krafteinsatz erforderlich. Oliver war gebrechlicher, als er aussah, und sein Hals war relativ dünn, wie Sie selbst bemerkt haben werden. Er hat außerdem einen kleinen Bluterguss im Nacken, wo sein Kopf gegen irgendetwas Hartes gepresst worden ist. Mein Befund schließt zweifelsfrei aus, dass er sich die Quetschung am Hals selbst zugefügt haben könnte, um seinen Selbstmord wie Mord hinzustellen, falls diese bizarre Möglichkeit überhaupt in Erwägung gezogen worden ist. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 22.09.2006