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Die Cottages haben alle einen Kühlschrank und eine Mikrowelle. Na, das haben Sie ja selbst gesehen. Die Gäste kümmern sich selbst um Frühstück und Mittagessen. Dan Padgett bringt ihnen am Abend mit dem Lieferwagen alles, was sie für den nächsten Tag brauchen. Sie bekommen frische Eier, von unseren eigenen Hühnern, Brot, das ich selbst backe, und Schinken. Wir haben einen Metzger auf dem Festland, der selbst räuchert - gute Qualität, ohne diese milchige Flüssigkeit, die bei abgepacktem Schinken immer austritt. Zum Lunch wollen die meisten Salat oder im Winter gebratenes Gemüse und eine Pastete oder Aufschnitt. Und wer möchte, kann sich für acht Uhr abends zum Dinner anmelden. Gibt immer drei Gänge.«
»Mr. Oliver war Freitag zum Dinner hier. War das üblich?«, fragte Kate.
»Nein, ganz und gar nicht. Das hat er in all den Jahren, die er auf die Insel kam, überhaupt nur dreimal gemacht. Er hat am liebsten in seinem Cottage gegessen. Miss Oliver hat für ihn gekocht, und sie hat mir immer am Vortag die Bestellung durchgegeben.«
Dalgliesh hakte nach: »Wirkte er beim Dinner wie sonst? Wahrscheinlich war es das letzte Mal, dass er lebend gesehen wurde, außer von seiner Familie. Wenn etwas Ungewöhnliches geschehen ist, könnte uns das einen Hinweis auf seine psychische Verfassung liefern.«

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ie hatte das Gesicht von ihm abgewandt und zum Herd gedreht, aber nicht schnell genug. Er meinte, einen kurzen Ausdruck der Erleichterung zu sehen. Sie sagte: »Ich würde nicht behaupten, dass sein Verhalten als - na ja, normal zu bezeichnen war, allerdings weiß ich nicht, was für ihn normal war. Wie gesagt, wir lernen die Besucher meistens nicht kennen. Und oft sind die Leute beim Dinner ziemlich still. Alle hier wissen ja, dass sie nicht über ihre Arbeit sprechen wollen oder warum sie hier sind. Und man hört eigentlich nie laute Stimmen. Dr. Staveley und Mr. Maycroft waren dabei, also sollten sie lieber die beiden fragen.«
Kate sagte: »Natürlich. Aber jetzt fragen wir Sie nach Ihrem Eindruck.«
»Na ja, ich war ja nicht die ganze Zeit über im Speisesaal, bin ich nie. Als Erstes hatten wir Melonenbällchen auf Orangensauce, und die hatte ich auf den Tellern angerichtet, ehe ich den Essensgong geschlagen habe, deshalb war ich nicht im Raum, bis Millie und ich das Perlhuhn mit Pfannengemüse reingetragen und die Teller vom ersten Gang abgeräumt haben. Ich konnte sehen, dass Mr. Oliver wütend war. Aber ich weiß nicht, warum. Wahrscheinlich, weil er sich mit Dr. Yelland darüber gestritten hatte, weil der seine Labortiere quält. Dr. Yelland hat ihm widersprochen, und die anderen drei starrten verlegen in die Luft.«
Kate fragte: »Mr. Maycroft und Dr. und Mrs. Staveley?«
»Genau, nur die drei. Miss Holcombe und Mrs. Burbridge essen nur ganz selten im Haupthaus zu Abend. Dr. Yelland wird Ihnen sicher davon erzählen. Meinen Sie, Mr. Oliver war am Freitag deshalb nicht er selbst, weil er schon wegen etwas anderem aufgebracht war?«
Dalgliesh sagte: »Wäre durchaus möglich.«
»Wenn ichÕs recht überlege, lerne ich, weil ich ja beim Dinner serviere, einige wenige Gäste doch besser kennen als die anderen. Besser als Dr. Staveley und Mr. Maycroft, ehrlich gesagt. Ich könnte Ihnen keine Namen nennen, und selbst wenn, würde ichÕs nicht tun. Da war mal ein Gentleman - ich glaube, er war ein Wirtschaftsboss -, der aß unheimlich gern Schmalzstullen. Wenn wir Rostbraten hatten, und damals gabÕs den noch öfter, vor allem im Winter -, dann hat er mir oft zugeflüstert, bevor er den Speisesaal verließ: ÝMrs. P., ich komme dann vor dem Schlafengehen noch mal in die Küche.Ü Dann hatte ich die Küche meistens schon sauber gemacht und trank noch in aller Ruhe eine Tasse Tee am Kamin. Der war ganz wild auf Schmalzstullen. Er hat mir erzählt, er hat die als Junge immer gegessen. Und von der Köchin seiner Familie hat er auch viel erzählt. Menschen, die in der Kindheit nett zu einem waren, vergisst man nie, oder, Sir?«
»Nein«, sagte Dalgliesh. »Die vergisst man nie.«
Kate nahm den Faden auf. »Mrs. Plunkett, es ist sehr schade, dass Mr. Oliver nicht auch so freundlich und vertrauensvoll war. Wir hatten gehofft, Sie könnten uns vielleicht etwas über ihn erzählen, was womöglich erklärt, warum er so starb, wie er gestorben ist.«
»Offen gestanden, ich hab ihn kaum zu Gesicht bekommen. Bei ihm kann ich mir nicht vorstellen, dass er sich zu mir in die Küche gesetzt und eine Schmalzstulle gegessen hätte.«

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ate fragte: »Wie ist er mit den anderen auf der Insel zurechtgekommen? Ich meine mit dem Personal und den Inselbewohnern?«
»Wie gesagt, ich hab ihn kaum zu Gesicht bekommen, und ich glaube die übrigen Angestellten auch nicht. Ich hatte gerüchteweise gehört, dass er sich hier niederlassen wollte. Das hat Ihnen bestimmt Mr. Maycroft schon erzählt. Das Personal hier hätte sich nicht darüber gefreut, und ich kann mir nicht vorstellen, dass Miss Holcombe begeistert gewesen wäre. Natürlich wussten wir alle, dass er nicht mit Dan Padgett auskam. Er hat ihn zwar nicht oft gesehen, aber Dan fährt die Mahlzeiten aus und erledigt kleinere Arbeiten, die schon mal in den Cottages anfallen, deshalb hatten sie vielleicht doch mehr Kontakt als die meisten Leute hier. Dan konnte Mr. Oliver jedenfalls gar nichts recht machen. Er oder Miss Oliver haben mich oft angerufen und sich beschwert, dass Dan nicht das geliefert habe, was sie bestellt hatten, oder dass es nicht frisch genug sei - was gar nicht sein konnte. Aus dieser Küche geht kein Essen raus, das nicht frisch ist. Mr. Oliver suchte anscheinend einfach nur Streit mit egal wem, und Dan bot sich wohl als Opfer an.«
Kate sagte: »Und dann gab es diesen großen Ärger wegen der über die Reling gefallenen Blutprobe.«
»Ja, davon hab ich gehört. Na ja, natürlich hatte Mr. Oliver allen Grund, verärgert zu sein. Schließlich musste er sich noch mal Blut abnehmen lassen, und keiner lässt sich gerne eine Nadel in den Arm stechen. Aber dazu ist es ja dann doch nicht mehr gekommen. Trotzdem, wahrscheinlich hat es ihm allein bei der Vorstellung gegraut. Und es war unachtsam von Dan, keine Frage.«
Kate sagte: »Meinen Sie, dass er das absichtlich getan haben könnte, aus Rache, weil Mr. Oliver ihn schikaniert hat?«
»Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich glaube, er hatte viel zu viel Angst vor Mr. Oliver, um so was Verrücktes zu tun. Trotzdem, es war schon ein merkwürdiges Missgeschick. Dan ist kein Freund vom Meer, also wieso beugt er sich so weit über die Reling? Ich hätte eher gedacht, er bleibt in der Kajüte hocken. Das hat er jedenfalls die paar Male gemacht, wenn ich mit ihm zusammen auf er Barkasse war. Richtiggehend Angst hat er gehabt.«
Kate fragte: »Hat er Ihnen je erzählt, warum er hier auf der Insel ist - ich meine Dan Padgett.«

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rs. Plunkett schien zu überlegen, wie und ob sie antworten sollte. Dann sagte sie: »Na, Sie werden ihn ja wohl selbst danach fragen, schätze ich, und er wird es Ihnen bestimmt erzählen.«
Dalgliesh sagte: »Das denke ich auch, Mrs. Plunkett, doch bei den Ermittlungen in einem ungeklärten Todesfall ist es immer sinnvoll, zwei verschiedene Meinungen über eine Person zu hören.«
»Aber Mr. Oliver hat Selbstmord begangen. Ich meine, er wurde erhängt aufgefunden. Ich wüsste nicht, was sonst jemand damit zu tun haben sollte, ich meine außer ihm selbst und möglicherweise seiner Tochter.«
»Mag ja sein, nur wird sein Gemütszustand ebenso von anderen beeinflusst worden sein, von dem, was andere gesagt und getan haben. Und es steht noch nicht hundertprozentig fest, dass es Selbstmord war.«
»Sie meinen, es könnte Mord gewesen sein?«
»Das wäre möglich, Mrs. Plunkett.«
»Na, wenn es Mord war, dann können Sie sich Dan Padgett aus dem Kopf schlagen. Der Junge würde es nicht mal fertig bringen, ein Huhn zu töten - obwohl er natürlich kein Junge mehr ist. Er wird so auf die dreißig zugehen, auch wenn er nicht so alt aussieht. Irgendwie ist er für mich immer Ýder JungeÜ.«

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ate sagte: »Wir haben uns gefragt, ob er sich Ihnen mal anvertraut hat, Mrs. Plunkett. Wir brauchen doch alle jemanden, mit dem wir über unser Leben, unsere Probleme reden können. Ich habe irgendwie den Eindruck, dass Dan sich hier auf Combe nicht richtig zu Hause gefühlt hat.«
»Oh, das kann man wohl sagen. Seine Mutter war es, die unbedingt herkommen wollte. Er hat mir erzählt, dass seine Mum als Kind jedes Jahr im August zwei Wochen mit ihren Eltern in Pentworthy verbracht hat. Natürlich durfte man die Insel auch damals schon nicht besuchen, aber sie hätte sie sich furchtbar gern mal angesehen. Das wurde für sie so was wie ein lang gehegter Traum. Als sie dann krank wurde und wusste, dass sie sterben würde, wollte sie unbedingt herkommen. Vielleicht hat sie geglaubt, dass die Insel sie heilen könnte. Dan wollte ihr den Wunsch nicht verwehren, weil sie doch so krank war. Es war nicht richtig, dass die beiden Mr. Maycroft bei der Bewerbung verschwiegen haben, wie krank Mrs. Padgett war. Das war ihm gegenüber nicht fair - und überhaupt gegenüber keinem von uns. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 21.09.2006