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Oder lag es daran, dass sie ebenso gut wie er wusste, dass seine Arbeit seiner Dichtung neue Nahrung gab, dass seine besten Verse in dem Schmerz, dem Grauen und den jämmerlichen Trümmern der tragischen und zerstörten Leben wurzelten, die seinen Arbeitsalltag bestimmten? War das der Grund, warum sie Distanz wahrte und sich nicht meldete, wenn er arbeitete? Für ihn als Dichter hatte die Schönheit in der Natur, in menschlichen Gesichtern nie genügt. Er hatte immer mit YeatsÕ im »fauligen Knochenkeller des Herzens« gewühlt. Er fragte sich auch, ob Emma von dem Unbehagen wusste, das er halb beschämt spürte, wenn er sich selbst eingestand, warum gerade er, der so viel Wert auf seine Privatsphäre legte, einen Beruf gewählt hatte, der es ihm erlaubte - ja, von ihm verlangte -, die Privatsphäre anderer zu verletzen, die der Toten ebenso wie die der Lebenden.

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ls er jetzt nach Norden zu der gedrungenen Steinkapelle hinüberschaute, sah er eine Frau mit dem entschlossenen Schritt davongehen, den er noch von den Gemeindemitgliedern seines Vaters in Erinnerung hatte, wenn sie in dem Bewusstsein, ihre Pflicht erfüllt und den geistigen Hunger gestillt zu haben, der irdischen Freude eines warmen Frühstücks entgegenstrebten. Er brauchte nur eine Sekunde, um Mrs. Burbridge zu erkennen, aber es war eine völlig veränderte Mrs. Burbridge. Sie trug einen blau-braunen Tweedmantel mit auffällig altmodischem Schnitt, einen blauen Filzhut, den eine flotte Feder zierte, und in den behandschuhten Händen hielt sie bestimmt ein Gebetbuch. Offenbar hatte sie an einer Art Gottesdienst in der Kapelle teilgenommen. Das bedeutete, dass Boyde jetzt freihaben und in seinem Cottage sein müsste.

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s gab keinen Grund zur Eile, und Dalgliesh beschloss, zunächst an dem Cottage vorbei zur Kapelle zu gehen, die rund fünfzig Meter weiter landeinwärts lag. Sie war primitiver gebaut als die Cottages, ein plumper Bau, von höchstens vier Quadratmetern. Die Tür, teilbar wie eine Stalltür, war verriegelt, und als er sie öffnete, schlug ihm kühlere, fast modrige Luft entgegen. Der Boden war mit Bruchsteinplatten gepflastert, und ein einzelnes hohes Fenster, dessen Scheibe so verdreckt war, dass kaum noch Licht hindurchdrang, bot nur einen verschwommenen Blick auf den Himmel. Ein wuchtiger, oben abgeflachter Felsbrocken genau unter dem Fenster wurde offenbar als Altar benutzt, obwohl er unbedeckt und bis auf zwei stämmige Kerzenständer aus Silber und ein kleines Holzkreuz leer war. Die Kerzen waren fast heruntergebrannt, aber Dalgliesh meinte, noch ein wenig beißenden Rauch in der Luft wahrzunehmen. Er fragte sich, wie man den Felsbrocken hierher geschafft hatte. Dazu waren bestimmt ein halbes Dutzend starker Männer vonnöten gewesen. Es gab keine Bänke oder Sitzmöglichkeiten, nur zwei hölzerne Klappstühle lehnten an der Wand. Einer war vermutlich für Mrs. Burbridge gedacht, die bestimmt die einzige regelmäßige Gottesdienstbesucherin war. Nur ein kleines Steinkreuz, das ziemlich schief am Scheitelpunkt des Daches aufragte, ließ vermuten, dass das Gebäude je geweiht worden war, und Dalgliesh nahm stark an, dass es ursprünglich als Schutzraum für Vieh erbaut und erst einige Generationen später in einen Ort des Gebets umgewandelt worden war. Er spürte nichts von jener unbegreiflichen Ehrfurcht, die alte Kirchen auslösen konnten und die aus Leere und dem Widerhall von Chorälen in der stillen Luft erwuchs. Dennoch ertappte er sich dabei, dass er die Tür behutsamer schloss, als er es normalerweise getan hätte, und er staunte wieder einmal, wie tief verwurzelt und unverwüstlich die Eindrücke seiner Kindheit waren, als das Jahr für ihn, den Sohn eines Geistlichen, nicht nach Schulferien oder Monaten gegliedert war, sondern nach dem Kirchenkalender: Advent, Weihnachten, Pfingsten, die nicht enden wollenden Sonntage nach Trinitatis.

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ie Tür zum Chapel Cottage stand offen, und als Dalglieshs hoch gewachsene Gestalt für einen kurzen Moment das Licht verdunkelte, war ein Klopfen unnötig geworden. Boyde, der vor dem Fenster an einem Tisch saß, den er als Schreibtisch benutzte, drehte sich sofort um und begrüßte ihn. Der Raum war lichtdurchflutet. Eine Tür in der Mitte mit Fenstern auf beiden Seiten, führte nach draußen auf die Steinveranda am Rande der Klippe. Links war ein großer gemauerter Kamin mit einem Ofen zum Brotbacken und einem Haufen Anzündholz auf der einen Seite und kleinen Scheiten auf der anderen. Davor standen zwei Sessel neben einem Beistelltisch und einer modernen Leselampe. Auf dem Schreibtisch verbreitete ein fettiger Teller den Geruch von gebratenem Speck.
Dalgliesh sagte: »Ich hoffe, ich störe nicht. Ich habe gesehen, wie Mrs. Burbridge die Kapelle verließ, und da dachte ich, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, um mit Ihnen zu reden.«
Boyde sagte: »Ja, sie besucht meist am Sonntagmorgen die Sieben-Uhr-Messe.«
»Sonst niemand?«
»Nein. Ich glaube, sie kommen gar nicht auf die Idee. Nicht mal jene, die früher regelmäßige Kirchgänger waren. Wahrscheinlich denken sie, dass ein Geistlicher, der aufgehört hat zu arbeiten - ich meine, einer, der keine eigene Gemeinde hat -, kein richtiger Geistlicher mehr ist. Ich mache keine Reklame für den Gottesdienst. Im Grunde ist es eine private Andacht, aber Mrs. Burbridge hat davon erfahren, als sie und ich mitgeholfen haben, Dan Padgetts Mutter zu versorgen.« Er lächelte. »Jetzt bin ich Rupert Maycrofts Sekretär. Ist vielleicht auch gut so. Die Arbeit als inoffizieller Inselkaplan wäre wohl zu viel für mich.«
Dalgliesh sagte: »Vor allem, wenn alle beschließen würden, Sie als Beichtvater zu betrachten.«

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ie Bemerkung war heiter gemeint gewesen. Er hatte sich kurz der köstlichen Vorstellung hingegeben, wie die Bewohner von Combe ihre ungeschminkten Gedanken über einander oder über die Gäste - vor allem über Oliver - in Boydes Ohren raunten. Doch die Reaktion seines Gegenübers verblüffte ihn. Einen Moment lang glaubte er schon, ihm sei eine Geschmacklosigkeit unterlaufen, allerdings hatte Boyde nicht den Eindruck auf ihn gemacht, leicht beleidigt zu sein.
Jetzt lächelte er auch schon wieder und sagte: »Ich wäre versucht, die Konfession zu wechseln, evangelisch zu werden und alle an Father Michael in Pentworthy zu verweisen. Aber ich bin unhöflich. Bitte setzen Sie sich. Ich wollte mir gerade Kaffee kochen. Möchten Sie auch einen?«
»Ja danke, sehr gern.«
Dalgliesh dachte kurz darüber nach, dass die kolossalen Mengen Koffein, deren Konsum von ihm erwartet wurde, eines der kleineren Berufsrisiken bei einer Mordermittlung darstellten. Doch er wollte, dass das Gespräch möglichst zwanglos verlief, und Essen oder Trinken war dabei stets hilfreich.

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oyde verschwand in der Küche und ließ die Tür angelehnt. Die üblichen Küchengeräusche ertönten, das Rauschen, als der Wasserkessel gefüllt wurde, das metallische Prasseln der Kaffeemühle, das Klappern von Tassen und Untertassen. Dalgliesh ließ sich in einem Sessel am Kamin nieder und betrachtete das Ölgemälde darüber. Konnte das ein Corot sein? Es war eine französische Landschaft, eine gerade Straße, von Pappeln gesäumt, die Dächer eines fernen Dorfes, ein Kirchturm, der in der Sommersonne flirrte.
Boyde kam mit einem Tablett herein. Der Geruch nach Meer und Holzfeuer wurde von dem Duft des Kaffees und der warmen Milch überlagert. Er schob einen kleinen Tisch zwischen die Sessel und stellte das Tablett ab.
Dalgliesh sagte: »Ich hab gerade Ihr Ölbild bewundert.«
»Das hat meine Großmutter mir vermacht. Sie war Französin. Es ist ein früher Corot, 1830 bei Fontainebleau gemalt. Das einzige wertvolle Stück, das ich besitze. Combe hat zumindest den Vorteil, dass ich das Bild aufhängen kann, ohne befürchten zu müssen, es könnte gestohlen oder beschädigt werden. Die Versicherung wäre für mich unbezahlbar. Es gefällt mir vor allem wegen der Bäume. Ich vermisse Bäume, es gibt so wenige auf der Insel. Wir importieren sogar das Brennholz.«

S
ie tranken schweigend ihren Kaffee. Dalgliesh empfand eine seltsame innere Ruhe, was nur äußerst selten der Fall war, wenn er mit einem Verdächtigen zu tun hatte. Er dachte: Das ist ein Mann, mit dem ich hätte reden können, einer, den ich gemocht hätte. Doch ihm war bewusst, dass, trotz Boydes herzlicher Gastfreundschaft, kein Vertrauen zwischen ihnen herrschte.
Nach einer Minute stellte er seine Tasse ab und sagte: »Als ich Sie alle zusammen in der Bibliothek nach dem gestrigen Morgen befragt habe, waren Sie der Einzige, der angegeben hat, dass er vor dem Frühstück auf der Landzunge spazieren gegangen ist. Ich muss Sie noch einmal fragen, ob Sie dabei jemanden gesehen haben.«
Ohne Dalgliesh in die Augen zu blicken, sagte Boyde leise: »Ich habe niemanden gesehen.«
»Und wo genau waren Sie unterwegs?«
»Ich bin über die Landzunge bis zum Atlantic Cottage und dann wieder hierher zurückgegangen. Das war kurz vor acht Uhr.«
Erneut schwiegen sie. Boyde nahm das Tablett und trug es in die Küche. Es dauerte drei Minuten, ehe er zu seinem Platz zurückkehrte, und er schien seine Worte genau abzuwägen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 19.09.2006