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Dalgliesh sah, dass sie zitterte. Sie verbreitete eine derart vehemente Empörung, dass er sie wie eine spürbare Kraft empfand, die förmlich von den harten Steinmauern abprallte und den Raum mit konzentriertem Hass erfüllte. Er wartete einen Moment, dann fragte er: »Was geschah dann?«
»Irgendwer - Oliver entweder mit diesem Lektor oder seiner Tochter - muss Adrian zurück in sein Cottage getragen haben. Er brauchte zwei Tage, um wieder nüchtern zu werden. Wir wussten nicht, was los war, nur dass er getrunken hatte. Wir dachten, er sei im Haupthaus irgendwie an Wein gekommen, aber wir konnten uns nicht erklären, wie. Zwei Tage später setzte Adrian mit Jago über, um die Vorräte für die Woche zu holen, und verschwand. Ich fuhr später im selben Monat in meine Londoner Wohnung und fand ihn eines Tages vor meiner Tür, sternhagelvoll. Ich habe ihn aufgenommen und mich einige Wochen um ihn gekümmert. Dann habe ich ihn wieder hierher gebracht. Ende der Geschichte. Während wir zusammen waren, hat er mir erzählt, was passiert war.«
»Das war bestimmt nicht leicht für Sie.«

F
ür ihn auch nicht. Ich bin nicht gerade die angenehmste Mitbewohnerin, erst recht, wenn ich nichts trinken darf. Mir war klar, dass es in London ein Ding der Unmöglichkeit sein würde, also habe ich ein einsam gelegenes Cottage in der Nähe von Bodmin Moor gemietet. Es war noch keine Hauptsaison, deshalb war es nicht schwer, etwas Preisgünstiges zu finden. Wir sind sechs Wochen dort geblieben.«
»Wusste hier auf der Insel jemand was davon?«
»Ich habe Guy angerufen, um ihm zu sagen, dass es mir gut ging und dass Adrian bei mir war. Ich habe ihm nicht erzählt, wo ich war. Nur Jago habe ich eingeweiht. Er ist öfter gekommen und hat mich an seinen freien Wochenenden abgelöst. Ohne ihn hätte ich es nicht geschafft. Einer von uns beiden hat Adrian immer im Auge behalten. Gott, es war manchmal langweilig, aber wissen Sie was, rückblickend war ich, glaube ich, ganz glücklich, vielleicht glücklicher als seit vielen Jahren. Wir sind spazieren gegangen, haben uns unterhalten, gekocht, Karten gespielt, Stunden vor dem Fernseher gehockt und uns Wiederholungen von alten BBC-Serien angeschaut, manche davon - zum Beispiel Das Juwel der Krone - liefen über Wochen. Und natürlich hatten wir Bücher. Er hat es uns leicht gemacht. Adrian ist freundlich, intelligent, sensibel und witzig. Er jammert nicht. Als er das Gefühl hatte, dass die Zeit dafür reif war, kehrten wir nach Combe zurück. Keiner stellte irgendwelche Fragen. So leben die Menschen hier. Sie stellen keine Fragen.«
»Hat er sich innerlich von der Kirche entfernt, weil er Alkoholiker war? Hat er Ihnen dazu etwas gesagt?«
Ja, soweit wir über diesen Bereich miteinander kommunizieren können. Ich verstehe nicht viel von Religion. Zum einen wohl wegen seiner Trunksucht, aber hauptsächlich, weil er den Glauben an einen Teil der Lehre verloren hatte. Warum ihn das so belastet hat, kann ich nicht nachvollziehen. Ich hab immer gedacht, das wäre doch gerade der Vorteil unserer guten alten anglikanischen Kirche: dass man praktisch glauben kann, was man will.

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edenfalls ist er zu dem Schluss gekommen, dass Gott nicht gleichzeitig gut und allmächtig sein kann. Weil das Leben ein Kampf zwischen diesen beiden Mächten ist - Gut und Böse, Gott und Teufel. Das ist irgend so eine häretische Lehre mit einem bestimmten Namen - fängt mit M an.«
Dalgliesh sagte: »Manichäismus.«
»Ja, könnte sein. Scheint mir ganz einleuchtend. Zumindest erklärt dieser Glaubenszweig das Leiden der Unschuldigen, dem sonst immer nur mit fadenscheinigen Begründungen ein Sinn abgerungen werden kann. Wenn ich überhaupt einen Glauben hätte, dann wärÕs der. Wahrscheinlich bin ich, ohne es zu wissen, Manichäerin - wenn das das richtige Wort dafür ist -, seit zum ersten Mal ein Kind vor meinen Augen an Krebs gestorben ist. Aber anscheinend darf man so was als Christ nicht glauben, und ich vermute als Priester schon gar nicht. Adrian ist ein guter Mensch. Ich selbst bin vielleicht nicht gut, doch ich erkenne es bei anderen. Oliver war böse, Adrian ist gut.«
Dalgliesh sagte: »Wäre es so einfach, dann wäre mein Job ein Kinderspiel. Danke, dass Sie es mir erzählt haben.«
»Und Sie werden Adrian nicht auf seinen Alkoholismus ansprechen? Das war unsere Abmachung.«
»Wir haben keine Abmachung, aber ich werde ihn vorläufig nicht darauf ansprechen. Vielleicht wird es auch gar nicht nötig sein.«
»Ich werde ihm sagen, dass Sie Bescheid wissen, das finde ich nur fair. Vielleicht erzählt er Ihnen dann selbst davon. Danke für den Wein. Ich werde mich jetzt verabschieden. Sie wissen ja, wo Sie mich finden.«
Dalgliesh sah ihr nach, wie sie sich unter dem Sternenhimmel mit selbstbewussten Schritten entfernte, dann spülte er die beiden Weingläser aus und verriegelte die Cottagetür. Also gab es drei Menschen mit einem möglichen Motiv: Adrian Boyde, Jo Staveley und wahrscheinlich auch Jago, der seine freien Wochenenden geopfert hatte, um Jo abzulösen - eine Großzügigkeit, die vermuten ließ, dass Jago wie Jo Staveley Olivers Grausamkeit heftig verabscheute. Aber hätte Jo Staveley ihm das alles anvertraut, wenn sie wüsste oder auch nur vermutete, dass einer der anderen beiden schuldig war? Wahrscheinlich ja, falls sie eingesehen hatte, dass er früher oder später zwangsläufig auf die Wahrheit stoßen musste. Keiner der drei schien als Täter wahrscheinlich, doch galt das für alle auf Combe Island.

E
r wusste, dass es bedenklich war, sich zu sehr auf das Motiv zu konzentrieren und Tathergang und Tatmittel zu vernachlässigen. Er hatte allerdings das Gefühl, dass in diesem Fall das Motiv entscheidend war. Der gute alte Nobby Clark hatte ihm erklärt, dass es für Mord nur vier Motive gab: Lust, Geld, Hass und Liebe. Das war nur bedingt richtig. Es gab nämlich unzählige Motive, und einige besonders grässliche Mörder hatten aus Gründen getötet, die rational unerklärlich waren. Ein Satz kam ihm in den Sinn, wie er meinte, von George Orwell: Mord, das unerhörte Verbrechen, sollte nur aus starken Gefühlen entspringen. Und natürlich tat es das immer.


Buch dreiStimmen der Vergangenheit
1Am Sonntagmorgen schlug Dalgliesh kurz vor Tagesanbruch die Augen auf. Von Kindheit an war sein Erwachen immer abrupt gewesen, ohne erkennbare Phasen zwischen Schlaf und Wachsein, und sein Verstand nahm sofort die Eindrücke des neuen Tages auf, während sein Körper es kaum erwarten konnte, die umhüllende Bettdecke abzustreifen. An diesem Morgen jedoch blieb er in schläfriger Ruhe liegen, zögerte jeden sanften Schritt eines langsamen Wachwerdens hinaus. Die beiden großen weit geöffneten Fenster hoben sich als blasse Schemen ab, und allmählich offenbarten sich die Farben und Formen des Schlafzimmers. In der Nacht hatte das Meer eine beruhigende Begleitmusik geliefert, die ihn sachte in den Schlaf gewiegt hatte, jetzt jedoch kam es ihm leiser vor, war eher ein sanftes Pulsieren der Luft als ein wirklich wahrnehmbares Geräusch.

E
r duschte, zog sich an und ging nach unten. Er machte sich frischen Orangensaft, entschied sich gegen ein warmes Frühstück und schlenderte mit seiner Müslischale in der Hand durchs Wohnzimmer, um sich dieses ungewöhnliche Quartier mit den steinernen Wänden mit mehr Muße anzuschauen, als es am Vortag möglich gewesen war. Dann trat er aus dem Cottage hinaus in die weiche, nach Meer duftende Morgenluft. Es war ein stiller Tag, über tief hängenden grauen Wolkenstreifen, die rosa angehaucht waren, zeigte sich ein blasses Blau. Das Meer war ein pointillistisches Gemälde, bis zum Horizont silbrig getupft. Er blieb ganz ruhig stehen und schaute Richtung Osten - wo Emma war. Wie schnell sie sich doch in seine Gedanken stahl, selbst wenn er an einem Fall arbeitete. In der Nacht war die Vorstellung, sie in den Armen zu halten, fast quälend gewesen. Jetzt war ihre Präsenz weniger aufwühlend, wie sie leise neben ihn trat, das dunkle Haar vom Schlaf zerzaust. Plötzlich sehnte er sich danach, ihre Stimme zu hören, doch er wusste, dass sie nicht anrufen würde, ganz gleich, was der Tag bringen mochte. War dieses Schweigen, wenn er beruflich unterwegs war, ihre Art, seine Ungestörtheit zu respektieren, und ihm zu zeigen, dass ihre und seine Arbeit strikt getrennt waren? Die Ehefrau oder Geliebte, die in einem unpassenden oder peinlichen Augenblick anrief, war schließlich ein beliebtes Element jeder Komödie.

E
r konnte sie jetzt anrufen - bestimmt war sie um diese Zeit noch zu Hause -, aber er wusste, dass er es nicht tun würde. In ihrem Kopf schien eine stille Übereinkunft zu gelten, wonach der Geliebte, der Detective war, von dem Geliebten strikt getrennt wurde, der Dichter war. Ersterer verschwand in regelmäßigen Abständen in eine fremde und unerforschte Welt, die sie nicht hinterfragen oder erkunden wollte -, vielleicht meinte sie aber auch, kein Recht darauf zu haben. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 18.09.2006