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»Rente statt Urlaub« klappt nicht

Nobel-Ökonom Selten betreibt menschliche Wirtschaftswissenschaft

Lindau (dpa). Bundesfinanzminister Peer Steinbrücks (SPD) Appell für weniger Urlaub zu Gunsten von mehr Rente gibt Reinhard Selten kaum eine Chance. Der einzige deutsche Nobelpreisträger für Ökonomie glaubt nicht mehr an den Bürger als rein vernunftgesteuertes Wirtschaftswesen.

Menschen entschieden wirtschaftliche Fragen auch aus Faulheit, Gewohnheit oder Stolz, sagte Selten in einem Interview beim Treffen der Nobelpreisträger für Wirtschaft in Lindau. Der Homo oeconomicus ist für den 75 Jahre alten Professor aus Bonn ausgestorben: »Die Wirtschaftswissenschaft muss in dieser Hinsicht umdenken.«
Seine Skepsis bei Appellen wie »Rente statt Urlaub« erklärt Selten am Beispiel einer amerikanischen Firma. Als diese ein Rentenmodell anbot, unterschrieb keiner. Als der Rentenabzug automatisch erfolgte und nur bei Widerspruch unterblieb, machten die meisten mit. »Solche Dinge muss man beim staatlichen Handeln berücksichtigen«, sagt Selten. Fragwürdig nennt Selten den Trend, alle Bereiche nur unter wirtschaftlichen Aspekten zu sehen. »Das ist, was man ökonomischen Imperialismus nennt.« Der Mensch sei komplexer als die Annahme, er entscheide sich wohl informiert für seinen größtmöglichen Nutzen. Der 1994 mit dem Nobelpreis geehrte Forscher wünscht sich darum Zusammenarbeit mit Psychologen und Hirnforschern.
Selten selbst holt den Menschen an seinem Labor für experimentelle Wirtschaftsforschung an der Universität Bonn zurück in die Wissenschaft. Manche Annahme brachten die Versuchspersonen ins Wanken, etwa die Theorie der Schnäppchenjagd. Nach der reinen Lehre müssten Kunden um so länger Angebote vergleichen, je größer die Preisunterschiede sind. Dann lohnt sich der Aufwand am meisten. Im echten Leben sei es andersherum. Bei großen Unterschieden suchten Menschen nur kurz, weil ihnen schon der erste Preisunterschied das Gefühl eines Schnäppchens vermittele.

Artikel vom 21.08.2006