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Olivers Kleidung ist im Labor, wie Sie jedoch vermutlich wissen, muss es beim Würgen, wenn der Kopf zusätzlich nach hinten gegen einen harten Gegenstand gepresst wird, nicht unbedingt zum Körperkontakt zwischen Täter und Opfer kommen. Aber das müssen Sie klären, nicht ich. Eines ist allerdings interessant: Ich musste heute Morgen wegen eines anderen Falls im Labor anrufen, und dort hatte man gerade eine erste Untersuchung des Seils abgeschlossen. Viel war da leider nicht zu finden. Das Seil ist nämlich über die ganze Länge abgewischt worden. Vielleicht können Sie ja feststellen, mit welchem Material es gereinigt wurde, aber bei der Oberflächenstruktur ist das nicht sehr wahrscheinlich.«

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algliesh fragte: »Einschließlich des Knotens?«
»Sieht so aus. Die schicken Ihnen eine E-Mail, wenn sie mehr herausfinden. Ich habe gesagt, ich würde Ihnen schon mal von dem Seil erzählen. Rufen Sie mich an, wenn ich Ihnen sonst noch irgendwie helfen kann. Auf Wiederhören, Commander.«
»Auf Wiederhören, und danke.«

Die Verbindung wurde getrennt. Dr. Glenister hatte ihren Teil der Arbeit getan; sie hatte nicht vor, ihre Zeit damit zu verschwenden, auch noch über seine Arbeit zu sprechen.
Dalgliesh rief Kate und Benton zurück ins Seal Cottage und brachte sie auf den neuesten Stand.
Kate sagte: »Dann verrät das Seil uns wohl nur eins: Calcraft wusste, dass das Labor von dieser Oberfläche Fingerabdrücke nehmen kann, was bedeutet, dass er in forensischen Dingen nicht ganz ahnungslos ist. Vielleicht weiß er sogar, dass sich von Schweiß DNA gewinnen lässt. Jago und Padgett haben beide das Seil angefasst, nachdem die Leiche heruntergelassen worden war, also hätten sie es nicht unbedingt abwischen müssen, oder? Allerdings hätte jeder Zugang zu dem Seil gehabt, als es wieder im unverschlossenen Leuchtturm hing.«
Benton sagte: »Es könnte ja auch sein, dass es nicht vom Täter abgewischt wurde, sondern von jemandem, der ihn schützen wollte.«

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ie setzten sich an den Tisch, und Dalgliesh verteilte die Aufgaben für den Rest des Tages. Es mussten Entfernungen abgemessen werden, es musste überprüft werden, ob Padgett vom Puffin Cottage aus hätte sehen können, wie Oliver zum Leuchtturm ging, und wie lange er gebraucht hätte, um über die untere Klippe dorthin zu laufen: der gesamte Leuchtturm musste nach möglichen Spuren abgesucht und die Verdächtigen einzeln vernommen werden. Nach einer Nacht, in der alle Zeit zum Nachdenken gehabt hatten, konnte dem einen oder anderen durchaus noch etwas eingefallen sein.
Jetzt, wo Dr. Glenister offiziell bestätigt hatte, dass es sich um Mord handelte, war es an der Zeit, Geoffrey Harkness im Yard anzurufen. Dalgliesh war nicht gerade erfreut über den Befund, und dem Stellvertretenden Polizeipräsidenten würde es wohl kaum anders ergehen.

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arkness sagte am Telefon zu ihm: »Ab jetzt werden Sie Unterstützung von den Technikern brauchen, Spurensicherung und Erkennungsdienst. Eigentlich wäre es vernünftig, den Fall an die Polizei von Devon und Cornwall zu übergeben, aber gewisse Leute in London sähen das nicht gern, und außerdem sind Sie ja nun einmal vor Ort und sollten auch weitermachen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie den Fall innerhalb der, sagen wir, nächsten zwei Tage aufklären?«
»Das lässt sich unmöglich sagen.«
»Aber Sie zweifeln nicht daran, dass der Täter auf der Insel ist?«
»Ich denke, wir können davon ausgehen.«
»Bei einer so begrenzten Zahl von Verdächtigen dürfte die Sache ja nicht allzu lange dauern. Wie schon gesagt, in London wird man der Meinung sein, dass Sie weitermachen sollten. Ich melde mich wieder, sobald wir eine Entscheidung getroffen haben. Bis dahin, viel Glück.«

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rs. Burbridges Büro war ein kleiner Raum im ersten Stock des Westflügels, aber ihre Wohnung lag eine Etage darüber. Da sich der Fahrstuhl im Turm befand, war die Wohnung entweder über die Hintertreppe vom Erdgeschoss aus zu erreichen, oder wenn man den Fahrstuhl bis zu Maycrofts Büro nahm und dann die Bibliothek durchquerte. An der glänzend weiß lackierten Tür prangte ein Namensschild aus Messing und ein Klingelknopf, was sowohl den Status der Hauswirtschafterin unterstrich als auch ihr Recht auf Privatsphäre. Dalgliesh hatte sich angemeldet, doch als Mrs. Burbridge gleich auf sein fast unhörbares Klingeln hin die Tür öffnete, begrüßte sie ihn und Kate, als wären sie überraschender Besuch, über den sie nicht sonderlich erfreut war. Dabei war sie keineswegs unhöflich. Die Regeln der Gastfreundschaft wurden gewahrt.

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ie Diele war erstaunlich groß, und noch bevor sich die Wohnungstür hinter Dalgliesh schloss, hatte er das Gefühl, ein sehr persönlich eingerichtetes Reich betreten zu haben, wie er es auf Combe nicht erwartet hätte. Mrs. Burbridge hatte die gesammelten Andenken ihrer Familie mit auf die Insel gebracht: Familienzeugnisse vergänglicher oder dauerhafterer Vorlieben, sorgfältig gepflegtes zeittypisches Mobiliar, das sie offenbar aus Gründen der Pietät behalten hatte und nicht, weil es so gut in die neue Wohnung gepasst hätte. Auf einem geschwungenen Mahagonischreibtisch war eine bunte Sammlung von großen und kleinen Porzellanfiguren mit ganz unterschiedlichen Motiven arrangiert. Da wetterte John Wesley von seiner Kanzel, und gleich daneben hatte Shakespeare die Beine anmutig übereinander geschlagen, eine Hand an die Denkerstirn gelegt und die andere auf einen Stapel gebundener Bücher gestützt. Dick Turpins Beine baumelten von einem winzigen Pferd, und hinter ihm thronte eine sechzig Zentimeter hohe Queen Victoria mit den Insignien der Kaiserin von Indien. Neben dem Schreibtisch waren mehrere Stühle - zwei elegant, die anderen wahre Ungetüme in Größe und Form - in einer wenig einladenden Reihe aufgestellt. Die verblasste Tapete über ihnen war fast völlig von Bildern verdeckt: belanglose Aquarelle, kleine Ölgemälde in protzigen Rahmen, ein paar sepiabraune Fotos, Drucke mit viktorianischen Motiven des ländlichen Lebens, in denen sich kein Dorfbewohner jener Epoche wieder erkannt hätte, zwei zarte Ölbilder von tänzelnden Nymphen in vergoldeten, ovalen Rahmen.

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rotz der Überladenheit hatte Dalgliesh nicht das Gefühl, ein Antiquitätengeschäft zu betreten, vielleicht weil die Objekte weder den Zweck erfüllen sollten, hübsch zu wirken, noch zum Kauf zu verlocken. Während der wenigen Sekunden, in denen er hinter Mrs. Burbridge und Kate durch die Diele schritt, dachte er: Die Generation unserer Eltern hat die Vergangenheit in Öl, Porzellan und Holz geehrt; wir streifen sie einfach ab. Selbst wenn wir der Geschichte unserer Nation gedenken und sie lehren, stehen die schlimmen Dinge, die wir getan haben, im Mittelpunkt, nicht die guten. Er musste an seine eigene sparsam möblierte Wohnung über der Themse denken, und er empfand plötzlich ein so irrationales Schuldgefühl, dass ihm unbehaglich zumute wurde.

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on den Familienbildern und Möbeln hatte er nur die behalten, die ihm gefielen und auf denen sein Auge gern ruhte. Das Familiensilber war in einem Banksafe. Er brauchte es nicht und hatte auch nicht die Zeit, es zu polieren. Die Bilder seiner Mutter und die theologische Bibliothek seines Vaters hatte er an deren Freunde verschenkt. Und was, so fragte er sich, würden die Kinder dieser Freunde letztlich mit ihrem ungewollten Erbe anfangen? Für die Jugend war die Vergangenheit stets eine Last. Würde Emma etwas mit in ihr gemeinsames Leben bringen wollen, und wenn ja, was? Und dann drängte sich ihm wieder die alte schleichende Unsicherheit auf. Würden sie überhaupt je ein gemeinsames Leben haben?
Mrs. Burbridge sagte gerade: »Ich war dabei, im Nähzimmer aufzuräumen. Vielleicht kommen Sie ein paar Minuten mit dort hinein, danach können wir dann ins Wohnzimmer gehen, da ist es gemütlicher.«

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ie führte sie in einen Raum am Ende des Flurs, der sich so krass von der voll gestopften Diele unterschied, dass Dalgliesh sein Erstaunen nur mit Mühe verbergen konnte. Der Raum war großzügig geschnitten und sehr hell, mit zwei großen Fenstern nach Westen, und ähnelte in seiner funktionalen Strenge mehr einer Werkstatt als einem privaten Wohnraum. Auf den ersten Blick sprang ins Auge, dass Mrs. Burbridge eine überaus begabte Stickerin war. Das gesamte Zimmer war dieser Kunstfertigkeit gewidmet. Zwei Holztische standen im rechten Winkel zueinander und waren mit einem weißen Tuch bedeckt. Eine ganze Wand wurde von Schubfächern eingenommen, durch deren Vorderseiten glänzende Rollen mit bunten Seidenfäden durch Zellophan leuchteten. Vor einer anderen Wand stand eine Kiste voller Seidenstoffballen. An einer Pinwand daneben hingen lauter kleine Musterproben und Farbfotos von bestickten Altardecken, Chorröcken und Stolen.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 23.09.2006