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Danziger bitten
um Erklärung

Stadtrat berät über Günter Grass

Danzig (dpa). Die Mehrheit der Danziger möchte, dass Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass Ehrenbürger seiner polnischen Geburtsstadt bleibt. Mehr als 52 Prozent von 1000 Teilnehmern einer Repräsentativumfrage sagten, Grass solle wegen seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS nicht auf die Ehrenbürgerschaft verzichten.

Das sagte gestern im polnischen Rundfunk Danzigs Bürgermeister Pawel Adamowicz, der die Umfrage in Auftrag gegeben hatte. Der Danziger Stadtrat berät morgen, ob Grass wegen seiner SS-Vergangenheit die Ehrenbürgerschaft aberkannt werden soll. Adamowicz sagte weiter, er wolle den Autor der »Blechtrommel« bitten, den Danzigern selbst zu erklären, warum er so lange über seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS geschwiegen habe. Grass ist seit 1993 Ehrenbürger der nordpolnischen Hafenstadt.
Auch in Deutschland ging die Diskussion um den Literatur-Nobelpreisträger am Wochenende weiter. Literaturkritiker Hellmuth Karasek kritisierte ihn erneut. Hier habe sich »ein Moralist selber zu Grunde gerichtet«, sagte er in der ARD-Sendung »Beckmann«, die heute ausgestrahlt wird. »Er war ja das Staatstragendste, was wir in Deutschland haben. Der ist ja gar nicht mehr aus den Wolken 'runtergekommen.« Er könne Grass nur raten: »Runter vom Sockel. Jede Woche eine Resolution - das war schon ein bisschen anstrengend.« Karasek hatte Grass kürzlich bereits vorgeworfen, sich den Nobelpreis erschlichen zu haben, indem er bewusst seine SS-Vergangenheit verschwiegen habe.
Grass selbst sagte der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, vor dem Schreiben habe er seiner Frau und einigen Kollegen seine Waffen-SS-Mitgliedschaft gestanden. Ihm sei jedoch nicht mehr bewusst gewesen, dass er 1990 schon einmal im kleinen Kollegenkreis über seine Zeit bei der Waffen-SS gesprochen habe. »Das hatte ich tatsächlich völlig vergessen«, sagte Grass (78).
Altbundespräsident Richard von Weizsäcker (86), selbst im Zweiten Weltkrieg Infanterie-Hauptmann, sagte, dafür, dass derzeit »alle Steinewerfer« über Grass herfielen, sei dieser selbst verantwortlich. »An der Kraft seiner Literatur und seinen prägenden Leistungen für das deutsch-polnische Verhältnis nach dem barbarischen Krieg ändert das nichts!« Zur Diskussion in Grass' polnischer Geburtsstadt Danzig sagte von Weizsäcker: »Das bleibt ein vorübergehender Ausdruck einer gegenwärtigen polnischen Suche nach Distanz zum deutschen Nachbarn.« Er wisse aus Erfahrung, wie viel Grass zur Verbesserung des deutsch-polnischen Verhältnisses beigetragen habe.
Grass' Autobiografie »Beim Häuten der Zwiebel« sprang unterdessen auf Anhieb auf Platz eins der Bestsellerliste des Nachrichtenmagazins »Focus«. Die Bestsellerliste wird auf der Basis von Verkaufszahlen ermittelt.

Artikel vom 21.08.2006