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»In kleinen Schritten geht es voran«

Die Wunden des Krieges schließen sich: Bielefeld ist eine einzige Großbaustelle


Wohnungen, Straßen, Geld. Anfang der 50er Jahre fehlt es in Bielefeld an allen dreien. Nur eines gibt es zur Genüge: Ruinen. Noch viele Jahre nach Kriegsende rufen zerstörte Häuser die schrecklichen Luftangriffe ins Gedächtnis, deren heftigstem am 30. September 1944 große Teile der Innenstadt zum Opfer fielen.
»Es waren schwere Jahre, aber wir blickten nach vorn.« Herbert Schröder drückt das Lebensgefühl aus, das die Menschen in den Jahren des Aufbaus erfasste: »In kleinen Schritten voran.«
Überall wird gebaut. Sennestadt wächst ab 1957 und macht als grüne Stadt mit kreuzungsfreier Verkehrsführung bundesweit von sich reden. Baulücken in Bielefelds Alt- und Neustadt schließen sich allmählich, der Jahnplatz erhält 1955 ein neues Gesicht und zwei Jahre später seinen Tunnel.
Ganze Stadtteile entstehen dort, wo gestern noch Acker war. Am Brodhagen, Lipper Hellweg und Auf dem langen Kampe heißen die großen Bauvorhaben. »Die normale Arbeitszeit war 48 Stunden bei sechs Arbeitstagen in der Woche«, sagt Reinhold Dopheide. Der Bauingenieur kann nur schmunzeln, schaut er sich heutige Baustellen an: »Wir zogen alles mit bloßen Händen hoch. Ein Kran oder Fertigbeton aus dem Mischerwagen - solche Gedanken waren reine Zeitverschwendung. Wir hatten nicht einmal richtige Arbeitsschuhe. Unsere Maurer sind in Holzschuhen auf wackligen Gerüsten rumgeturnt, und die brachen fast zusammen.
»August-Pape-Platz« nennen die Bielefelder den heutigen Sportplatz des Helmholtz-Gymnasiums, bezeichnet nach der gleichnamigen Firma August Pape. Das Unternehmen hat den Auftrag, die Schuttberge in der Innenstadt abzutransportieren. Dabei halfen viele Freiwillige: »Wer nach Bielefeld zog, der musste in den ersten Jahren nach 1945 helfen, Trümmer zu beseitigen«, sagt Siegfried Scheel. Rund eine Million Kubikmeter Schutt wurden aus der Stadt geräumt. Fuhre um Fuhre Schutt schaffte der Trümmerexpress auf provisorischen Gleisen aus der zerstörten Innenstadt über die Ravensberger Straße heran; was verwertbar war, wurde am Platz geschreddert, unbrauchbare Brocken zuckelten auf polternden Loren zur Lerchenstraße. Aus dem Schutt der zerbombten Häuser wuchs dort ein 25 Meter hoher Berg, den die Bielefelder »Monte Scherbelino« nannten. Bald war er ein beliebter Rodelberg in der flachen Wohngegend.
Hart ist die Arbeit auf den Großbaustellen. »Mit dem Sonnenaufgang begann der Arbeitstag«, sagt Reinhold Dopheide. Hunderte Bauarbeiter ziehen die Häuser hoch, in Handarbeit, Stein für Stein. Das Werkzeug - Hammer, Wasserwaage, Kelle - bringen sie selbst mit, Arbeitskleidung gibt es nicht. Das Ideal ist die Kluft der Gilde: weißer Anzug, weiße Mütze. In der Praxis wird getragen, was da ist: abgetragene Hosen, alte Hemden, zerschlissen und voller Flicken, dazu Holzschuhe. »Im Winter waren die mit Stroh gefüllt, unter die Sohlen wurde ein altes Stück Gummi genagelt, das das Holz vor allzu schneller Abnutzung schützte.«
1,27 Mark Stundenlohn erhält ein Maurer 1950, am Ende der Woche bekommt er seinen Verdienst in der braunen Lohntüte. Dafür steht er bei Frost und Hitze auf dem klapprigen Gerüst oder schleppt zentnerweise Speis auf der Schulter über wacklige Leitern. Mittags gibt es das Essen aus dem Henkelmann: »Die Blechkannen haben wir im Wasserbad in der Bauhütte erhitzt.« Wobei »Bauhütte« großartig klingt: In Wirklichkeit ist es eine Bretterbude ohne Fenster. Und wer mal muss, der schlägt sich in die Büsche. »Dixi-Klo« ist ein Fremdwort für die Bauarbeiter der 50er Jahre . . .
Die zweite Folge lesen Sie am Samstag, 30. September.
Auszug aus dem Buch »Weißt du noch? - Morgens Muckefuck und abends Rock'n'Roll im Fürstenhof« (Herkules-Verlag, 11,90 Euro) von Frank Tippelt. Das Buch mit Geschichten und Anekdoten aus dem Bielefeld der 50er Jahre erscheint in diesen Tagen. Erhältlich im Buchhandel und in den WESTFALEN-BLATT-Geschäftsstellen.

Artikel vom 27.09.2006