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»Ich habe mich nicht zur
Waffen-SS gemeldet«

Günter Grass spricht über seine späte Offenbarung

Mön (dpa). Nicht nur im gestern Abend ausgestrahlen TV-Gespräch mit Ulrich Wickert hat sich Günter Grass zum Wirbel um seine spät offenbarte Vergangenheit in der Waffen-SS geäußert. Auf der dänischen Insel Mön gab er ein weiteres Interview.
Schlagzeilen und heftige Kontroversen hat es gegeben, weil Sie jetzt erst Ihre Mitgliedschaft in der Waffen-SS öffentlich gemacht haben. Warum so spät?Grass: »Ich habe das, im Rückblick, immer als einen Makel empfunden, der mich bedrückt hat und über den ich nicht sprechen konnte. Das musste mal geschrieben werden. Und das ist jetzt keine Entschuldigung und keine Erklärung: Ich habe mich nicht zur Waffen-SS gemeldet. Ich habe mich mit 15 zur U-Boot-Waffe oder als Alternative zu den Panzern gemeldet, was genauso verrückt war.«

Was empfanden Sie, als Sie zur Waffen-SS einberufen wurden?Grass: »Das ist für mich nachträglich der Schock: Für mich als Jugendlicher war die Waffen-SS eine Elite-Einheit. In meiner damaligen beschränkten Sicht unterschied sie sich von der Wehrmacht darin, dass der Adel nicht das Sagen hatte. Es waren Einheiten, die an brenzligen Stellen eingesetzt wurden und die die größten Verluste hatten.

Sie wurden nach der schikanösen Ausbildung in einem Lager in den böhmischen Wäldern Ende Februar 1945 vereidigt. Wie ging es weiter?Grass: »Es war eine unüberschaubare Zeit. Erst kam ich in eine Marschkompanie, dann folgte ein dauerndes Verlegen. Die Division Frundsberg, der ich zugeordnet war, habe ich nie gesehen. Immer wieder wurden Verbände zusammengewürfelt, die schon wenige Tage nach dem Einsatz auseinandergesprengt waren. Zwei Mal gehörte ich in den wenigen Wochen als Soldat Spähtrupp-Unternehmen an, auch Himmelfahrtskommandos genannt. Meine Existenz wurde bestimmt von der ständigen Furcht, von der deutschen Feldgendarmerie ohne gültigen Marschbefehl erwischt zu werden, was einem Todesurteil gleichkam. Die ersten Toten, die ich gesehen habe, waren keine Russen, sondern Deutsche, darunter viele meines Alters. Wenn man durch eine Ortschaft kam beim Rückzug - es war immer Rückzug - hingen an den Dorflinden oder an Kastanienbäumen Männer mit Schild vor der Brust »Feigling« oder »Vaterlandsverräter«, darunter auch ältere, Offiziere, denen man die Klappen abgerissen hatte, und eben Jungs in meinem Alter.«

Im Buch erwähnen Sie ausführlich Ihren »Kumpel Joseph«. Hand aufs Herz, war es tatsächlich der heutige Papst Benedikt XVI., den Sie im Gefangenlager trafen?Grass: »Ich kann es nur vermuten. Diese Erkenntnis kam übrigens erst während des Schreibens. Sicher ist, dass ich in Bad Aibling, diesem Massenlager mit etwa 100 000 deutschen Kriegsgefangenen unter freiem Himmel, mit einem jungen Burschen meines Alters - wir waren beide 17 - in einem Erdloch hockte. Es regnete viel, wir saßen dann immer unter seiner Zeltplane. Er war bayerischer Herkunft, war intensiv bis fanatisch katholisch und war auch in der Lage, mit seinen 17 Jahren gelegentlich lateinische Zitate einzustreuen. Und während ich das Manuskript für mein Erinnerungsbuch schreibe, wird ein Deutscher Papst. Und dann lese ich - ich wusste, wer Kardinal Ratzinger war, kannte seine konservative Einstellung, sein leises beharrliches Auftreten aus dem Hintergrund heraus -, dass der in Bad Aibling gewesen ist. Dieser Joseph, der kam mir bekannt vor, auch die Art und Weise, dieses Schüchterne, Beharrliche, Leise an ihm - ich kann nur vermuten, dass er es gewesen ist.«

Artikel vom 18.08.2006