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»Operation Marriage« keine Liebesheirat

Schachzug unter Alliierten - Deutsche nicht überrascht - Westfalens kurzes Regierungsglück

Von Reinhard Brockmann
Die Gründung des Landes Nordrhein-Westfalen vor 60 Jahren war keine Liebesheirat. Vielmehr ging es um einen militärisch-politischen Schachzug der Briten mit dem Codenamen »Operation Marriage«.

Die Geschichte des Bindestrichlandes erwächst unmittelbar aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs. Die Briten als Besatzungsmacht in Nord- und Westdeutschland strebten eine territoriale Lösung an. Sie war einzig und allein orientiert auf das in zwei Weltkriegen strategisch bedeutende Ruhrgebiet. Verwaltungspolitische, gar regionale Gründe rangierten dahinter. Zumindest anfangs galt es, Deutschland zu schwächen, aber auch die Ansprüche der Russen und Franzosen außen vor zu halten.
Man ahnte in London, dass die alte preußische Rheinprovinz und Westfalen nicht unbedingt ein belastbares Paar bilden würden. Vielleicht wurde deshalb das militärische und keineswegs romantische Codewort »Operation Marriage« ausgegeben.
Mit der Verordnung Nr. 46 der britischen Militärregierung vom 23. August 1946 war die Ehe geschlossen. Titel: »Betreffend die Auflösung der Provinzen des ehemaligen Landes Preußen in der britischen Zone und ihre Neubildung als selbständige Länder«.
Aus dem nördlichen Teil der preußischen Rheinprovinz und der preußischen Provinz Westfalen wurde das Land Nordrhein-Westfalen gebildet. Mit einiger Verspätung, nachdem ein Zusammengehen mit Niedersachsen geprüft worden war, folgte die Vereinigung des Freistaates Lippe mit Nordrhein-Westfalen am 21. Januar 1947 durch die Verordnung Nr. 77. Zu diesem Zeitpunkt zählte Nordrhein-Westfalen damit 11,8 Millionen Einwohner. Heute sind es 18 Millionen - damals wie heute das bevölkerungsreichste Bundesland.
In der US-Zone war man schneller. Schon im September 1945 wurden die Verwaltungsgebiete Bayern, Württemberg-Baden und Groß-Hessen erstmalig als »Staaten« bezeichnet. Auch in der Sowjetzone gab es 1945 vorläufige »Länder«.
Briten und Franzosen setzten auf Demokratisierung und Aufbau von unten. Das kostete Zeit. Luftmarschall Sir Sholto Douglas übernahm Anfang 1946 von Feldmarschall Montgomery das Kommando in der britischen Zone und residierte in Bad Oeynhausen. Düsseldorf und Münster waren Sitz je eines Militärgouverneurs, dem die deutschen Verwaltungen verantwortlich waren.
In dieser Phase hatte Westfalen eine eigene Regierung mit ernannten »Beauftragten«/Ministern, ohne dass es »von oben« die erklärte Absicht gab, daraus ein Bundesland erwachsen zu lassen. Die Briten forderten die Heirat als engste Verbindung zweier Teile vermutlich auch, damit sich kein anderer Besatzer dazwischen drängen konnte. Immerhin hatten die Russen in Jalta erfolgreich durchgesetzt, dass die zu schaffende französische Zone zwischen britisches und amerikanisches Areal zu schieben sei. Die Möglichkeit einer alliierten Vierer-Aufsicht über das Ruhrgebiet wäre historischen Überlegungen gefolgt.
Wachsende Abstimmungsprobleme zwischen den Alliierten, wo sich der künftige Ost-West-Gegensatz aufbaute, aber auch Frankreichs Ansprüche über Köln und das Rothaargebirge hinaus nach Norden führten im Mai und Juni 1946 im britischen Außenministerium zu schnellen Beschlüssen.
Man wollte Fakten und damit eine eigene Lösung schaffen. Zur Debatte standen das Ruhrgebiet allein, dieses zusammen mit dem linken Niederrhein oder eine Zusammenfassung der Provinzen Nordrhein und Westfalen. Die Entscheidung für die große Lösung fiel definitiv am 6. Juni 1946 im Foreign Office, dem britischen Außenministerium.
Öffentlich gemacht wurde die Weichenstellung allerdings erst sechs Wochen später. Man wollte noch eine Konferenz der Außenminister in Paris abwarten, die aber keine alliierte Lösung für das Ruhrgebiet fand.
Der am 17. Juli 1946 in Berlin bekanntgemachte britische Beschluss für ein großes NRW habe die breite Öffentlichkeit aber nicht mehr überrascht, erinnert sich Walter Först. Als Journalist beobachtete er für den NWDR und später WDR die Frühphase der Landespolitik. Schon vorher sei wohl etwas durchgesickert, erinnert sich Först. Genau wie heute, gab es ablehnende Stimmen, bevor die Tatsache als solche bekannt war. Am 24. Juni kritisierte der Oberpräsident von Westfalen, Rudolf Amelunxen, bei einer Pressekonferenz die Pläne zur »Verheiratung«. Und SPD-Chef Kurt Schumacher nannte am 25. Juni von seinem Sitz Hannover aus die Bildung eines so großen Landes einen entscheidenden Fehler, weil das neue Land ein »übermächtiger Widerpart zu einem neuen Deutschen Reich werden würde«.
Der Anfang Juli 1945 in Münster eingesetzte Amelunxen, strebte von Anfang an eine Provinzialregierung Westfalen an mit zehn Ressorts, »Generalreferate« genannt. Sein »Kultusminister« war der aus Paderborn gebürtige Zentrumspolitiker Johannes Brockmann, der in Weimarer Zeiten dem preußischen Landtag in Berlin angehört hatte.
Warnungen in der französische Presse, in der britischen Zone fände eine Wiedergeburt Preußens statt, führten vermutlich dazu, dass das langjährige Reichs- und preußische Innenminister Carl Severing nicht herangezogen wurde. Dabei galt der Sozialdemokrat aus Herford als absolut unbelastet vom Nationalsozialismus.
Sein Parteigenosse Heinrich Drake konnte dagegen in Detmold am 15. Juni 1945 problemlos das Amt des lippischen Landespräsidenten so antreten, wie er es 1933 hatte abgeben müssen.
Die Eheschließung, 15 Monate nach Ende des 2. Weltkriegs, erfolgt in katastrophalen Verhältnissen. Die Städte lagen in Trümmern, die Menschen hungerten. Kinder kamen unterernährt zur Schule, Arbeiter abgemagert in die Fabriken. Der erste Nachkriegswinter war bitterkalt, Heizstoffe waren Mangelware. In Düsseldorf und anderswo kam es zu Hungerdemonstrationen. Die Menschen gingen Kohlen »fringsen«. Der Kölner Kardinal Joseph Frings hatte in seiner Silvesterpredigt dem Kohlenklau den kirchlichen Segen gegeben.

Artikel vom 25.08.2006