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»Gott hatte etwas mit mir vor«

Diakonisse fand eine erfüllende Aufgabe: Schwester Ingrid hilft beim Mittagstisch

Von Imke Emmerich
Bethel (WB). Sie kann auch laut werden. »Explosiv« nennt sie es selbst. Wenn manche nur die Glasur vom Kuchen kratzen. Wenn mal wieder ein Zuckerstreuer fehlt. Oder wenn die Möbel aus dem Puppenhaus für die Kinder weniger werden. »Warum klauen erwachsene Männer klitzekleine Puppenstühle?« Da kann sie auch einmal so reagieren, wie es keiner von ihr erwartet. Explosiv eben. »Da gilt dann auch nicht die Ausrede, dass man betrunken war.« Eigentlich hat sie eine Aversion gegen betrunkene Männer. Eigentlich war sie sich auch nicht sicher, ob sie die Richtige ist für den Job. Aber sie weiß: Das war Gottes Plan.

Sie - das ist Schwester Ingrid, eine Diakonisse aus Bethel, eine kleine Frau, die Großes leistet. Seit zwei Jahren hilft sie beim Herforder Mittagstisch, wo Mittellose von Montag bis Samstag für wenige Cent eine warme Mahlzeit bekommen. Sie koordiniert und organisiert und kocht. »Dabei kann ich gar nicht kochen.« Doch den Gästen scheint es zu schmecken, schließlich kommen bis zu 60, samstags auch mal 70.
»Manchmal handle ich auch sehr unprofessionell, zu spontan und impulsiv.« Aber da gibt es diese vielen Momente, in denen nur Freude herrscht, in denen sie sieht, wie viel Vertrauen sie erfährt. Viele vertrauen ihr, sehen in ihr eine Bezugsperson. Zum Geburtstag bekam sie einen riesigen Präsentkorb. Auf der Karte dazu standen die Unterschriften von Obdachlosen, Drogensüchtigen und hoch Verschuldeten - Menschen, die keinen Pfennig zu verschenken haben und ihrer Schwester doch etwas gönnen wollten. Das rührt sie, das zeigt ihr, dass sie am rechten Ort ist.
In einem Dorf bei Heidelberg wurde Ingrid Hufnagel 1951 geboren. »Zu Hause war Religion kein Thema.« Ob sie als Kind schon an Gott glaubte? Nicht wegen Kindergottesdiensten und Religionsunterricht in der Schule. »Ich wusste nur: Gott hatte etwas mit mir vor. Er hat mich gewollt, deshalb bin ich da. Fertig.«
Nach Schule und Ausbildung arbeitete Schwester Ingrid als Kinderkrankenschwester in Speyer. Der Beruf machte ihr Spaß - bis die Allergie gegen Desinfektionsmittel und Penicillin kam: offene Hände, nässende Wunden, Juckreiz. Der Arbeitsalltag wurde zur Qual, irgendwann ging nur noch Brötchen schmieren und Wäsche sortieren. Sie ging nach Bethel, ins »Haus Gottes«. Dort wollte sie etwas Neues sehen, neue Erfahrungen sammeln. Ein Jahr bleiben, dann zurück nach Speyer gehen. Manchmal ließ es sich nicht vermeiden, mit Penicillin in Berührung zu kommen; die Allergie kam jedoch nicht. »Das sind so Momente, in denen man anfängt, sich zu fragen, was das für eine Bedeutung hat.« Drei Tage zurück in Speyer juckten die Hände, bildeten sich Wunden. Zeichen? Während der Einzelschichten nachts kamen die bohrenden Fragen. Plötzlich war es dann klar, »plötzlich war es in meinem Kopf angekommen. Ich gehe nach Bethel. Und: Ich werde Diakonisse.«
20 Jahre lang trug Schwester Ingrid Tracht, »das passt jetzt nicht mehr zu uns.« Seit nunmehr 30 Jahren lebt sie in der Schwesterngemeinschaft Sarepta in Bethel. Wenn sie Andachten hält, nennt sie Gott manchmal eine Frau. Für sie gibt es nicht nur Gott, den Herrn. Für die anderen Schwestern war das anfangs schwer, »in unserer Bibel steht das aber nicht so!« Mittlerweile hat man es akzeptiert, man lebt zusammen, lernt, andere Sichtweisen zu verstehen, sich zu ergänzen. Eine kleine Wohnung hat Schwester Ingrid im »Haus der Stille«, in dem sie mit 16 anderen Schwestern lebt.
Hat sie sich jemals nach einem anderen Leben gesehnt? Nach Familie, Haus und Garten? »Nein. Für mich ist alles stimmig.« Kinder wollte sie immer, aber keinen Mann. Als Kinderkrankenschwester hatte sie die Kinder immer um sich, in Bethel hat sie ihre Familie gefunden. Einen Garten gibt es da auch. Mal muss sie Unkraut zupfen, mal im Haus Blumen gießen, mal Pfortendienst leisten. Besondere Regeln gibt es nicht, jeder beteiligt sich und gestaltet das Zusammenleben. »Dabei gibt es nicht so viele Worte. Es herrscht viel Ruhe«, sagt sie. Und sie weiß, dass ihr Gott das alles für sie eingeplant hat - von Anfang an.

Artikel vom 18.08.2006