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Aus der Anonymität befreit

Neue »Stolpersteine« erinnern jetzt an Opfer des Nationalsozialismus

Von Matthias Meyer zur Heyde und Hans-Werner Büscher (Foto)
Bielefeld (WB). Die genaue Zahl ist gar nicht bekannt, sicher ist nur: Seit gestern liegen in Bielefeld mehr als 20 »Stolpersteine«, die an Bürger erinnern, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden.

Der Bildhauer Gunther Demnig, der »seit 1996 illegal und seit 2000 legal« Namen und Lebensdaten der Verfolgten in Messingblech stanzt, dieses in kleine Betonwürfel gießt und dann den Erinnerungsstein im Bürgersteig vor der ehemaligen Adresse des Opfers verlegt, begann seine Aktion - die dritte in Bielefeld - vor der Gesamtschule Stieghorst. Im Beisein einiger Verwandter würdigte er zunächst den Dachdecker Hugo Schweitzer, der 1940 im KZ Sachsenhausen umkam.
»Schweitzer gehörte dem linksgerichteten Dachdeckerverband an und geriet wiederholt mit dem Regime in Konflikt«, berichtete die Historikerin Dr. Monika Minninger, die biographische Daten vieler NS-Opfer ermittelt hat. »Leider können wir seinen letzten Wohnort vor der Deportation nicht mehr genau lokalisieren. Sicher ist nur: Hugo Schweitzer wohnte in einem Barackenlager Am Wortkamp 35a - etwa dort, wo heute die Gesamtschule steht.«
Ein in seiner lakonischen Kürze menschenverachtendes Telegramm vom 7. April 1940 aus dem KZ gibt Auskunft über Schweitzers Ende: »Ehemann an Schwäche nach Darmkatharr [sic!] verstorben. Kommandant.« Das Telegramm der Reichspost ging der Witwe zu. Das Ehepaar hatte drei Söhne - Ursula Schweitzer, die Frau von Gustav Schweitzer, sowie Angelika Dröge und Marita Limpke, die Töchter von Ferdinand Schweitzer, die ihren Schwieger- bzw. Großvater nicht mehr kennengelernt haben, freuten sich über die Würdigung. Hugo Schweitzers dritter Sohn, ebenfalls auf den Namen Hugo getauft, besitzt noch einige wenige Erinnerungsstücke und Fotos des Ermordeten.
Oberbürgermeister Eberhard David dankte den lokalen »Stolperstein«-Koordinatorinnen, Eva Hartog und Christine Biermann, für ihr bürgerschaftliches Engagement. »Die ÝStolpersteineÜ, die in anderen Städten heftig umstritten waren, haben in Bielefeld uneingeschränkten Zuspruch gefunden. Ich wünsche mir, dass diese Erinnerungsmale der Jugend vermitteln, wie mit Andersdenkenden umzugehen ist.«
Die stellvertretende Schulleiterin Beate Gollner kündigte an, ein Geschichtskurs des 12. Jahrgangs werde sich mit Hugo Schweitzers Schicksal befassen. Als Paten des »Stolpersteins« trat das Ehepaar Michael und Susanne Daalmann auf, das die Idee, einzelne Menschen aus der Anonymität herauszuheben, gerne unterstützt. »Ich stamme aus einer Dachdeckerfamilie - da bot es sich an, die 95 Euro für die Würdigung Schweitzers zu übernehmen«, sagte Susanne Daalmann und versprach: »Ich werde jetzt das Messingschild regelmäßig polieren.«
Gunther Demnig, der gestern 14 »Stolpersteine« mitführte, hat mittlerweile 8200 dieser kleinen Denkmäler verlegt, auch in Österreich. »Sogar die Ungarn zeigen Interesse«, berichtet der Bildhauer. Weil er alleine die Arbeit in Bielefeld nicht schafft, helfen ihm angehende Pflasterer des Brackweder Handwerks- und Bildungszentrums. Etwa 60 lokale Paten warten noch darauf, dass Demnig ihren Stein verlegt.

Artikel vom 18.08.2006