25.08.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Parteien gaben neuen Halt

Debatte um eigene Verstrickung gesucht und nicht gemieden

Von Reinhard Brockmann
Die Neugründung der Parteien aus den Regionen heraus wertet Prof. Lothar Albertin als einen wichtigen Anker für die Stabilität der folgenden Entwicklung. Der Historiker hat sich eingehend mit der frühen Nachkriegszeit in Ostwestfalen-Lippe befasst.

Seine grundlegende Untersuchung beschreibt die Zweischneidigkeit der Ausgangslage. Deutschland sei 1945 ein besiegtes und ein verachtetes Land gewesen.
Die Alliierten hätten Tribut für Unterdrückung und Völkermord durch die Diktatur und die Zerstörungen des nationalsozialistischen Krieges gefordert. Deutschland sei aber zugleich ein befreites Land gewesen, betont der frühere Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte und Politische Wissenschaft an der Universität Bielefeld. Unter strengen Vorgaben und Kontrollen der Siegermächte sollten die Deutschen sich staatlich neu konstituieren und in die Völkerfamilie zurückfinden. Albertin: »Wie demokratie- und friedensfähig sie sein würden, war die Schlüsselfrage der ersten Nachkriegsjahre.«
Ein zentrale Rolle nahmen in dieser Situation die wieder- oder neugegründeten Parteien ein. Aus ihrem Personal kamen hauptsächlich die ernannten, später gewählten Kräfte, die sich der gewaltigen Probleme des Alltags vor Ort annahmen. Noch heute staunen die Forscher, wie erfolgreich sie »geradezu eine Renaissance der kommunalen Selbstverwaltung« hervorbrachten. Bei alledem musste die eigene jüngste Vergangenheit aufgearbeitet werden - ein durchaus schmerzhafter Prozess.
Neben den Bemühungen der Verwaltungen sowie der Kirchen war es laut Albertin ein Verdienst der politischen Parteien, dass die junge Generation sich politisch nicht radikalisierte und die Flüchtlinge nicht zum sozialen Sprengstoff wurden.
Die britischen Militärs mit Hauptquartier in Bad Oeynhausen erkannten früh, dass die demokratischen Parteien unentbehrlich waren. Albertin ist fest überzeugt, dass nicht nur der Kalte Krieg, sondern auch die Bewährung der Parteien unter einer historischen einzigartigen Last in ganz wenigen, entscheidenden Jahren viel bewirkte. Gerade die Demokratisierung von unten nach oben habe wesentlich zur westeuropäischen Einbindung der Bundesrepublik beigetragen.
Albertins Forschungsarbeit korrigiert nicht zuletzt die weit verbreitete Behauptung, die Deutschen seien nach 1945 der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ausgewichen.
Im Gegenteil: Schon die programmatischen Impulse der Neugründer zeigten, dass das im Dritten Reich Erlebte aufgearbeitet werden wollte und sollte. Der Ansatz auf der lokalen Ebene bot jedem die Möglichkeit zur praktischen Teilhabe.
Heute weiß man: die Demokratisierung wäre gar nicht vorstellbar gewesen, ohne die Frage, wie es zu dem Grauen von Diktatur, Terror und Krieg gekommen war. Gegenüber einer Jugend, deren Mehrheit indoktriniert war, galt die Auseinandersetzung der Älteren mit der eigenen Verstrickung als unabdingbare Voraussetzung. Die Arbeitsgemeinschaften der Lehrerschaft, am meisten der damaligen Volksschulen, hätten dafür eindrückliche Zeugnisse geboten, heißt es bei Albertin. Klaus von Bismarcks Initiative in der politischen Bildungsarbeit des Jugendhofs Vlotho - von den Briten gestützt aber nicht reglementiert - habe sogar nachhaltige Wirkungen erbracht.

Lothar Albertin, Demokratische Herausforderung und politische Parteien. Der Aufbau des Friedens in Ostwestfalen-Lippe 1945-1948. Mit einem Beitrag von Petra Gödecke. Verlag Schöningh, Paderborn 1998, 39 Euro

Artikel vom 25.08.2006