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Zwischen Wiederaufbau und Neubeginn

Parteigründungen in Ostwestfalen-Lippe nach dem Zusammenbruch 1945 - Sprung über Konfessionsgrenzen

Von Reinhard Brockmann
Bielefeld (WB). Der Neustart des politischen Lebens, auch in Ostwestfalen-Lippe, war wesentliche Voraussetzung für die Gründung des Landes NRW. Fast in allen Lagern erfolgte die Bewegung von unten nach oben. Die meisten sprachen vom »Wiederaufbau«, die SPD betonte dagegen den »Neuaufbau«. Damit war die Auseinandersetzung mit der vorausgegangenen Katastrophe eingeschlossen und wurde, wie später behauptet, keineswegs verweigert.

»Das neue Deutschland muss sich wesentlich von der Weimarer Republik unterscheiden«, heißt es in den Gründungsprotokollen der SPD-OWL. Sozial- und Christdemokraten waren die ersten, die nach dem militärischen und moralischen Zusammenbruch Deutschlands die politische Arbeit aufnahmen.
Alle Parteien litten unter dem gewaltigen Ansehensverlust der Politik nach den Weimarer Misserfolgen und dem totalen Zusammenbruch infolge der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland. Politik sei ein »schmutziges Geschäft«, erklärten mehr als 80 Prozent in Umfragen kurz nach Kriegsende.
Bei der SPD in Bielefeld, Minden, Paderborn und Lippe waren vor allem Lokalpolitiker und Funktionäre aus der Zeit vor 1933 Initiatoren des organisierten Wiederbeginns. Die künftige »Union« stand - wie in der Sakristei einer Paderborner Kirche schon im Mai 1945 verabredet - für ein neues Projekt katholischer und evangelischer Christen - und damit gegen die sich ebenfalls neu findende alte Zentrumspartei.
Mit »einiger Verspätung« kamen die Liberalen hinzu, wie Professor Lothar Albertin feststellt. Weil die Briten deren lokale Zulassungsanträge besonders penibel auf alte Seilschaften prüften, war in den ersten ernannten statt gewählten Stadträten und Kreistagen die gelbe Farbe praktisch nicht präsent. Mit den höchsten Erwartungen war die am stärksten verfolgte Gruppe der Kommunisten in die neue Freiheit gestartet. Programmatischer Streit und das KPD-Verbot 1956 brachten aber schon bald das Aus für Dunkelrot in OWL.
Die Bielefelder Gründungsversammlung der SPD spiegelte die Befindlichkeiten des alten Anhangs in einer Art wider, wie sie auch bei den anderen Parteien anzutreffen war. Die beherrschende Gestalt war der Weimarer Politiker Carl Severing, der nicht nur Führungsfigur war, sondern weit mehr als heute Informationen und Themen an die seit 1933 praktisch abgeschnittene Basis zurückgab. Neben dem kommenden Chefredakteur der »Freien Presse« (von 1946 an) standen der Drucker Emil Gross und der Tischler Carl Schreck. In Lippe war Heinrich Drake führender Kopf der erwachenden Sozialdemokratie, in Paderborn beriefen die Briten Heinrich Lücking, Karl Denkner und Hermann Brockmann schon am 16. Juli 1945 für die SPD in den ersten Bürgerausschuss. Im traditionell »roten« Bielefeld wurde mit Arthur Ladebeck aber erst Ende Dezember 1945 ein Sozialdemokrat Oberbürgermeister.
Eine Enttäuschung für die SPD waren letztlich die Gemeindewahlen am 15. September 1946 und die Kreistagswahlen vier Wochen später. Klare Siege in den Städten Bielefeld, Herford, Minden, Lemgo und Detmold waren das eine. Verfehlte Mehrheiten in der Fläche für die Kreistage Bielefeld, Herford und Lemgo zeigten aber, dass die neuen Christdemokraten zu einem ernsthaften Gegner geworden waren. Sie reichten direkt an die Ränder der alten sozialdemokratischen Milieus heran. NRW-weit kam die SPD nur auf 33,4 Prozent, die CDU aber auf 46,1 Punkte.
Vor den Neugründungen von der Jahreswende 1945/46 an stand bei den Christdemokraten die landesweite Abstimmung darüber, ob es gelingt, Katholiken und Protestanten in einer gemeinsamen Partei - und gegen das Zentrum - zusammenzuführen. »In der schwersten Katastrophe unserer Geschichte rufen wir zur Sammlung in einer Christlich-Demokratischen Partei (CDP) auf«, erklärte der Dortmunder Verleger Lambert Lensing im Dezember 1945.
Die bis 1933 nie gelungene Gemeinsamkeit beider großen christlichen Bekenntnisse wurde unmittelbar nach der Kapitulation ausgerechnet im streng katholischen Paderborn mit am radikalsten gedacht. Bis zu einer nicht einmal besonders christlichen Labourparty reichten die Überlegungen einer Gruppe um den Diözesanpräses der katholischen Arbeitervereine Kaspar Schulte, den Jesuitenpater Johannes Hirschmann sowie den späteren Domkapitular Heinrich Hesse.
Aus den Erfahrungen der Unterdrückung, des Widerstands und Gesprächen mit anderen »Blutzeugen« in den Kerkern der Nazis war die Überzeugung gereift, dass es genüge christlich miteinander umzugehen, um zu einem neuen Politikmodell in der Demokratie zu gelangen.
Die Paderborner Sakristeirunden etwa waren kein Einzelfall. Auch in Baden gab es Vorstellungen von einer religiös und weltanschaulich neutralen Arbeiterpartei. Die dortige »Christlich-soziale Vereinigung« ging später in den CDA-Sozialausschüssen auf.
Schon im Juni 1945 präsentierten die »Paderborner« ihre Überlegungen in Essen vor ehemaligen Funktionären christlicher Gewerkschaften und der Zentrumspartei. Ein weiterer Vorläufer sogar schon zur NS-Zeit war der Bielefelder Kreis um den Oberlandesgerichtsrat Alfred Bozi, der Laien und Theologen beider Konfessionen ins Gespräch brachte.
Am 30. Juli 1945 kam es zu einer ersten Abstimmung, bei der nur noch eine Minderheit am Zentrum festhielt. Am 13. August fiel die Mehrheit in Wattenscheid noch deutlicher für die Neugründung aus. Wichtige Vertreter des alten Zentrums waren schon gar nicht mehr gekommen. Zu den Verweigerern gehörte auch der westfälische Kultusbeauftragte Johannes Brockmann. Er hielt später in Bundestag und NRW-Landtag sowie bei den Beratungen von Grundgesetz und Landesverfassung als einer der letzten Zentrumsleute die dezidiert katholische Position aufrecht.
In den evangelischen Gebieten Ostwestfalen-Lippes wurde Friedrich Holzapfel zur zentralen Figur. Er war 1900 in Bielefeld geboren worden und wurde 1945 von den Briten als Bürgermeister in Herford eingesetzt. Holzapfel hatte Kontakt zum Widerstandskreis um Max Habermann gehabt, gehörte währen der Nazi-Zeit zur Bekennenden Kirche und wurde fortan als Protestant der ewige zweite Mann in der Union: Hinter Lambert Lensing war er stellvertretender Vorsitzender der westfälischen CDP, bei Konrad Adenauer zweiter Vorsitzender der CDU in der britischen Besatzungszone und nach dem ersten Bundesparteitag 1950 neben Jakob Kaiser Vize in der Leitung der Bundes-CDU.
Gemeinsam mit Wilhelm Lindner, vor 1933 ebenfalls Deutschnationaler, lud Holzapfel zu einer ersten Versammlung Ende November im Bielefelder Ratskeller ein. Am 4. Dezember folgte ein Gründungsantrag an die Militärregierung, den diese aus ungeklärten Gründen aber »verlegte«. Deshalb konnte die CDU in Bielefeld erst am 2. März 1946 gegründet werden.
In Herford war das schon am 28. Januar 1946 gelungen, erste Gespräche sind sogar für den Mai 1945 nachgewiesen.
Die Idee vom Zusammenschluss der beiden christlichen Lager zu einer Partei gewann überall in OWL Unterstützung. Absichtserklärungen und Gründungsaufrufe gab es in Lübbecke, Detmold, Lemgo und Bad Salzuflen schon im Sommer 1945, für Gütersloh im Dezember 1945 und den Kreis Halle im Februar 1946 (Werther).
Der Landwirt Wilhelm Niermann war die zentrale Figur im Kreisverband Lübbecke, der sechs Wochen nach der Gründung bereits 542 Mitglieder hatte. Im Nachbarkreis Minden waren es im Sommer 1946 chon knapp 1000 eingeschriebene Mitglieder.
Fortsetzung auf Seite 10

Artikel vom 25.08.2006