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Neues Meisterwerk der
Literatur mit Knalleffekt

Grass schildert packend und unverblümt seine Jugend

Von Matthias Hoenig
Göttingen (dpa). Der Pulverdampf der politisch-moralisierenden Medienschlacht um Günter Grass ist noch nicht verzogen, doch jetzt kann gelesen werden. Um es vorwegzunehmen: Grass ist ein literarisches Meisterwerk gelungen - thematisch packend, stilistisch kunstvoll, schonungslos offen.

In seinem Erinnerungsbuch, wie Grass »Beim Häuten der Zwiebel« selbst nennt, schält der bald 79-jährige Autor wie bei einer Zwiebel Schicht um Schicht, um seine Jugendjahre zu erzählen: vom Kriegsbeginn 1939 bis zum Erscheinen des Weltbestsellers »Die Blechtrommel«. Nachgezeichnet wird die Entwicklung eines knapp Zwölfjährigen in Danzig, der in der NS-Zeit sozialisiert wurde und sich verführen ließ, bis zur erwachsenen, gereiften Künstler-Persönlichkeit.
»Ich war als Hitlerjunge ein Jungnazi. Gläubig bis zum Schluss«, schreibt Grass. Und über seine damals naive Sicht der Waffen-SS heißt es: »Und doch habe ich mich über Jahrzehnte hinweg geweigert, mir das Wort und den Doppelbuchstaben einzugestehen. Was ich mit dem dummen Stolz meiner jungen Jahre hingenommen hatte, wollte ich mir nach dem Krieg aus nachwachsender Scham verschweigen.«
Grass' Jugend ist exemplarisch für eine ganze Generation, die nach dem Krieg Mühe hat, mit sich ins Reine zu kommen. Zugleich werden zwei wichtige Dekaden deutscher Geschichte, des Umbruchs von der Nazi-Diktatur zur demokratischen Bundesrepublik, wieder lebendig: Hunger, Währungsreform, die »miefig-katholische« Adenauer-Ära.
Stilistische Vielfalt zeichnet das Buch aus. Mal schaut der alte Grass irritiert auf den Jungen »meines Namens«. Dann beschreibt er fast im Reportagestil, wie er mehrfach nur knapp dem Tod entronnen ist während der letzten Kriegswochen. In Gefangenschaft knobelt Grass mit seinem gleichaltrigen »Kumpel Joseph« in einem Erdloch bei Regen um die Zukunft und spricht mit ihm über Gott und die Welt: Grass, katholisch erzogen, aber im Krieg völlig vom Glauben abgefallen, und der erzkatholische Joseph, von dem er annimmt, dass es der heutige Papst Joseph Ratzinger gewesen sein müsse. Ein Beispiel für köstlichen Humor ist die Geschichte über einen Kochkurs ohne Zutaten im Lager. Grass hat ein pralles Buch geschrieben, das vieles ist: Kriegs- und Antikriegsbuch, Entwicklungs- und Heimatroman, Autobiografie und literarische Annalen einer Umbruchzeit.
l ARD, 22.45 Uhr: In der neuen Literatursendung »Wickerts Bücher« spricht Ulrich Wickert heute mit Günter Grass über das Buch.
Günter Grass: Beim Häuten der Zwiebel, Steidl Verlag Göttingen, mit 11 Rötelvignetten, 24 Euro, ISBN 3-86521-330-8

Artikel vom 17.08.2006