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Studierende lernen von
Jugendlichen im Abseits

Fallstudien an der Uni - Angehende Lehrer sensibilisieren

Bielefeld (sas). Angehende Lehrer, die an der Universität Bielefeld Pädagogik studieren, haben beim Bielefelder Verein BAJ Fallstudien über Jugendliche durchgeführt. Dabei haben sie den Alltag, die Erfahrungen, Erwartungen und Haltungen junger Menschen kennengelernt, die im regulären Schulsystem durch das Raster gefallen sind.

Was als einmaliges Projekt begann, soll in eine dauerhafte Kooperation münden. Ziel ist, den Pädagogen von morgen das Rüstzeug zu vermitteln, auch mit schwierigen Jugendlichen klarzukommen, damit diese möglichst nicht »aussortiert« werden.
Obligatorischer Teil der Lehrerausbildung in Bielefeld, die in einem Bachelor- und Masterstudium erfolgt, ist das Verfassen einer Fallstudie. 33 Lehramtsstudenten haben diese Fallstudien in Zusammenarbeit mit dem Verein »Berufliche Ausbildung und Qualifizierung Jugendlicher und junger Erwachsener« (BAJ) durchgeführt. Die BAJ ermöglicht jungen Menschen, die an anderen Schulen gescheitert und auf dem ersten Arbeitsmarkt chancenlos sind, einen Einstieg in das Berufsleben und die Chance, Schulabschlüsse nachzuholen.
»In ihren Fallstudien haben sich die Studenten mit Schulschwänzern, Jugendlichen mit Vorstrafen, mit der Frage, wie man mit Störungen im Unterricht umgeht und mit dem Übergang von der Ausbildung in den Arbeitsmarkt befasst«, erklärt Prof. Dr. Katharina Gröning von der Fakultät für Pädagogik und Initiatorin der Kooperation. Intensiv haben die Studenten die 17- bis 19-Jährigen befragt, dabei Einblicke in ganz andere Lebensstile gewonnen und erfahren, »wie typische Wege ins schulische Abseits aussehen - Wissen, das ihnen im Berufsleben zugute kommen kann.« Die jungen Menschen bei der BAJ waren angetan von der Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wurde, die Studenten auch etwas verschreckt, erzählt Katharina Gröning.
Dabei erfuhren sie durchaus Positives, zum Beispiel, dass die Hälfte der Jugendlichen mit Bewährungsauflagen ihr soziales Milieu gewechselt und wieder bessere Kontakte zur Familie hat. Ebenso aber gebe es Ressentiments, die Ablehnung von Bindungen, narzistische Bezüge auf das eigene Ich und sogar Hass, sagt Katharina Gröning. »Hier ist es wichtig, pädagogische Kompetenz zu beweisen, Dinge zu versprachlichen und dennoch den Kontakt zu halten.«
Umgang mit Heterogenität sei ein Oberthema in der Pädagogik, erklärt die Wissenschaftlerin. Schülergruppen sind längst nicht mehr homogen und damit in ihrem Verhalten auch nicht leicht einschätzbar. »Bei den verschiedensten Hintergründen können Probleme dann auch einmal radikal aufbrechen.« Sie rechtzeitig zu erkennen und damit umgehen zu können, soll für die Studenten Ziel der dauerhaften Kooperation sein. »Sie sollen Schlüsselqualifikationen erlernen, wir wollen die pädagogische Sensibilität anregen.«
So müssten die Lehrer Familiendiagnostik betreiben und so viel wie möglich über ihre Schüler wissen. Sie sollen Gespräche führen können, ohne zu beschämen und zu moralisieren, die Selbstachtung ihrer Zöglinge nicht verletzen und Migrantenkindern vermitteln, dass ihre kulturelle Identität ein Schatz sei, neben den die Kultur der neuen Heimat trete.
Ab Herbst will Katharina Gröning mit Studenten für die BAJ-Jugendlichen eine Gruppenberatung anbieten; zudem sollen die Fallstudien weitergeführt werden - damit die angehenden Lehrer später Fehlentwicklungen früh erkennen und gegensteuern können. Lehrer hätten quasi das Mandat für belastete Schüler, verdeutlichen Katharina Gröning und Irma Herrmann, pädagogische Leiterin des BAJ: »Oft geht es auch um die zweite oder dritte Chance. Man muss den Stein immer wieder den Berg hinaufrollen.«

Artikel vom 18.08.2006