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Ärzte entfernen bei Kind
erkrankten Teil des Gehirns

OP befreit fünfjährigen Jungen von schweren Krampfanfällen

Von Christian Althoff
Bielefeld (WB). In einer komplizierten Operation haben Ärzte des Epilepsiezentrums im evangelische Krankenhaus Bielefeld einem Jungen (5) einen kranken Teil seines Gehirns entfernt und das Kind so von schweren Krampfanfällen befreit. »Für uns hat damit ein neues Leben begonnen«, strahlt Claudia Leitzbach (30), die Mutter des kleinen Patienten aus Frankfurt am Main.

Justin war neun Monate, als er epileptische Anfälle bekam. »Er streckte für Minuten seine Arme von sich und verdrehte die Augen«, erinnert sich die Mutter. Als Ursache der Krämpfe war im Frankfurter Clementinen-Krankenhaus eine Tuberöse Sklerose diagnostiziert worden - ein angeborener Gen-Defekt, der in Deutschland jedes 15 000. Kind trifft und zu knotenartigen Verhärtungen im Gehirn führt. Diese gutartigen Tumore bringen den Stromfluss im Kopf durcheinander. Sie verursachen plötzliche elektrische Entladungen und lösen so die Muskelkrämpfe aus.
»Ein Jahr lang konnten wir die Anfälle mit Medikamenten unterdrücken. Dann kehrten die Krämpfe zurück - häufiger und schwerer als zuvor«, erinnert sich die Mutter. Als Justin zwei Jahre alt gewesen sei, habe er jeden Tag zwischen vier und acht Anfälle erlitten. »Seine Muskeln spannten sich für Minuten an. Er stand stocksteif da, bis plötzlich ein Beinmuskel nachgab und Justin hinfiel.« Um solche Stürze zu verhindern und dem verängstigten Kind während der Anfälle beistehen zu können, habe eines der Elternteile immer in der Nähe des Kindes sein müssen - Tag und Nacht. »Nach den Krampfanfällen war unser Sohn so schwach, dass er mir nicht einmal die Hand geben konnte. Es dauerte immer eine Stunde, bis er sich wieder erholt hatte«, erzählt Claudia Leitzbach. Mit den Anfällen verbunden waren erhebliche Entwicklungsverzögerungen: Bewegungsabläufe, Sprach- und Spielvermögen - mit vier Jahren war Justin auf dem Stand eines Dreijährigen.
Hoffnung keimte bei der Familie auf, nachdem die Frankfurter Ärzte den Jungen ans Epilepsie-Zentrum Bethel überwiesen hatten. Es gilt als bundesweit führend in der Diagnostik und Behandlung von Kindern mit schweren Epilepsien. In dem Zentrum sind in den vergangenen 15 Jahren bei 20 Kindern mit Tuberöser Sklerose Knoten aus dem Gehirn entfernt worden, der jüngste Patient war gerade ein Jahr alt. Dr. Ingrid Tuxhorn, Kinderneurologin und Leitende Ärztin am Epilepsiezentrum: »Die Anfälle sind sehr belastend. Sie können mit Angstzuständen und Herzrasen einhergehen und enden oft mit einem Sturz - wenn man die Kinder während der Krampfattacke nicht stützt.«
Obwohl die Patienten bis zu 30 Knoten zwischen Erbsen- und Wallnussgröße im Gehirn haben könnten, gebe es manchmal einen Tumor, der die »Führungsrolle« besitze und den Anfall auslöse, sagt die Expertin. »Unsere jahrelange Erfahrung und der Einsatz von Gehirnstromschreibern und neuesten bildgebenden Verfahren ermöglichen uns heute in vielen Fällen, diesen entscheidenden Tumor zu bestimmen«, erklärt die Ärztin, die Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Neuropädiatrie ist. »Wenn der Knoten so günstig liegt, dass wir ihn aus dem Gehirn entfernen können, hat der Patient gute Chancen, von seinen Anfällen befreit zu werden.«
Auch bei Justin war der Tumor gut erreichbar. In einer fünfstündigen Operation frästen die Neurochirurgen Dr. Heinz Pannek und Dr. Friedrich Behne zunächst über dem linken Ohr des Kindes ein handtellergroßes Stück aus der Schädeldecke, um den Knoten zu erreichen. »Die Kunst der Chirurgen besteht darin, den Knoten möglichst vollständig zu entfernen, ohne andere Hirnsubstanz zu verletzen«, erläutert Dr. Ingrid Tuxhorn. So lag Justins Tumor in einer Region, die die Muskeln von Gesicht, Zunge, Mund und linker Hand steuert. Die Chirurgen schickten deshalb während der OP mit einer Elektrode minimale Stromstöße in diesen Bereich des Gehirns und lösten so Reaktionen von Gesicht, Zunge, Mund und Hand aus. Dann arbeiteten sie sich mit der Elektrode Millimeter für Millimeter in Richtung des Tumors vor, bis die Stromstöße keine Reaktionen mehr hervorriefen. An dieser Stelle begannen die Ärzte, den fünf Zentimeter großen Tumorknoten herauszuschneiden.
»Die OP ist jetzt sechs Monate her, und Justin hat seitdem keinen einzigen Anfall mehr gehabt. Mit so einem tollen Erfolg hatten wir nicht gerechnet!«, freut sich Claudia Leitzbach, die in dieser Woche mit ihrem Sohn zur Kontrolluntersuchung in Bielefeld war. »Justin hat seit Februar enorme Fortschritte gemacht. Sein Wortschatz ist erheblich gewachsen, auch wenn seine Aussprache noch längst nicht der eines Fünfjährigen entspricht«, sagt die Mutter.
Justin besucht zur Zeit einen Kindergarten mit behinderten und nichtbehinderten Jungen und Mädchen. Ob er seine durch die Tuberöse Sklerose verursachte geistige Schwäche jemals überwinden wird, vermag heute noch niemand zu sagen. Claudia Leitzbach: »Wir sind erst einmal dankbar, dass Justin nicht mehr unter den schweren Krämpfen leidet und auch unser Familienleben endlich halbwegs normal verläuft - ohne durchwachte Nächte und die ständige Angst vor der nächsten Krampf-Attacke.«

Artikel vom 19.08.2006