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Grass: »Man will mich
zur Unperson machen«

Strasser: SS-Leute sollten kein Alibi bekommen

Von Dietmar Kemper
Bielefeld (WB). Literaturnobelpreisträger Günter Grass wollte angeblich SS-Männern keine Gelegenheit geben, von eigenen Verbrechen abzulenken. So hat gestern der Präsident der Schriftstellervereinigung PEN-Zentrum Deutschland, Johano Strasser, das späte Bekenntnis seines Freundes Grass erklärt, selbst Mitglied der NS-Elite-Truppe gewesen zu sein.

»Grass befürchtete, dass sich SS-Männer reinwaschen«, sagte Strasser dieser Zeitung. Deshalb habe der Autor in den ersten Jahren nach Kriegsende über seine eigene Verwicklung geschwiegen, dann aber den richtigen Zeitpunkt verpasst, um seine Mitgliedschaft als 17-Jähriger bekannt zu machen. Ein Skandal sei dies nicht, weil Grass mit Ausnahme der SS-Mitgliedschaft öffentlich nie verschwiegen habe, dass er als junger Mann ein überzeugter Nazi war und an den »Endsieg« glaubte. Strasser: »Selbst ein Opfer der Verführung, hat Grass im Gespräch mit Jugendlichen wiederholt davor gewarnt, Demagogen auf den Leim zu gehen.«
Seine Schriftstellerkollegen warnte Strasser davor, mit Grass so umzugehen wie mit Autoren in der ehemaligen DDR. Die seien im Westen dafür kritisiert worden, dass sie nicht alle Helden waren und das SED-Regime stürzten.
Grass selbst erklärte gestern, die teils heftige Kritik an ihm diene dazu, »mich zur Unperson zu machen«. Seine SS-Mitgliedschaft empfinde er als »Makel«, aber er habe zwischen Februar 1945 und der Verwundung am 20. April 1945 weder einen Schuss abgegeben noch ein Verbrechen begangen. Die am 1. September erscheinende Autobiographie »Beim Häuten der Zwiebel« (Steidl Verlag) über Kindheit und Jugend habe er als geeignete literarische Form angesehen, um über seine Naivität in der NS-Zeit zu berichten.
Der CDU-Kulturexperte Wolfgang Börnsen forderte in der »Bild«-Zeitung, Grass solle seinen Nobelpreis zurückgeben. Dem hielt der Paderborner Germanist Hartmut Steinecke entgegen: »Der Literaturnobelpreis wird nicht für vorbildliches politisches Verhalten, sondern für das schriftstellerische Werk vergeben.« Im Gegensatz zum Werk seien das persönliche Ansehen und die Rolle als moralische Instanz gefährdet, sagte Steinecke dieser Zeitung. Zum Glück habe Grass selbst die SS-Mitgliedschaft benannt: »Wäre sie bei Recherchen herausgekommen, wäre das für seinen Ruf katastrophal gewesen.« Gleichwohl beginne jetzt die »Zeit der Abrechnung« seiner politischen und publizistischen Gegner.
Polens früherer Präsident und Friedens-Nobelpreisträger Lech Walesa verlangte von Grass die Rückgabe seiner Ehrenbürgerschaft der Stadt Danzig. Kein Mitglied der Waffen-SS könne Ehrenbürger einer polnischen Stadt werden, mahnte auch das polnische Parlamentsmitglied Jacek Kurski
Historiker wie Norbert Frei bezeichneten das Bekenntnis von Grass als »keine große Sache«. Die Waffen-SS des Jahres 1944, zu der auch Soldaten der Wehrmacht und »Volksdeutsche« etwa aus Rumänien abkommandiert wurden, sei keine Eliteformation mehr gewesen. Die ARD strahlt am Donnerstag um 22.45 Uhr ein Interview von Ulrich Wickert mit Grass über die Gründe für das lange Schweigen aus.

Artikel vom 15.08.2006