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»Ich habe das immer als Makel empfunden«

Günter Grass war als 17-Jähriger Mitglied der Waffen-SS

Hamburg (dpa). Die Nachricht, dass Günter Grass (78) in den letzten Kriegsmonaten zur Waffen-SS einberufen wurde, hat am Wochenende erheblichen Wirbel ausgelöst.
Ausgerechnet der »linke« Grass, der als moralisches Gewissen gern Zunge zeigt, der politisch für die Aussöhnung mit den einstigen Kriegsgegnern Polen und Russland wie kaum ein anderer steht, sich für verfolgte Autoren in aller Welt einsetzt und immer wieder eine tabufreie Aufarbeitung der NS- Vergangenheit eingefordert und selber zum Thema gemacht hat.
Grass hat in seiner Anfang September erscheinenden Autobiografie »Beim Häuten der Zwiebel« seine bisher nicht bekannte Mitgliedschaft bei der Waffen-SS thematisiert (diese Zeitung berichtete bereits).
Das 500 Seiten dicke Buch behandelt die Zeit vom Kriegsausbruch am 1. September 1939 bis zum Erscheinen von Grass' Welt-Bestseller »Die Blechtrommel (1959), für den Grass 1999 den Nobelpreis erhielt. Elf Kapitel hat das Buch, die ersten vier erzählen die Zeit vom Kriegsausbruch bis zum Kriegsende. Im vierten Kapitel - es umfasst etwa 60 Seiten - schildert Grass seine Einberufung, die von Schikanen begleitete Ausbildung bei der Waffen-SS, seine Kriegserlebnisse und seine Todesangst, die ihn im Schlaf noch Jahre später verfolgen wird.
Warum hat Grass erst jetzt seine kurze Zeit bei der Waffen-SS öffentlich gemacht? »Ich habe das, im Rückblick, immer als einen Makel empfunden, der mich bedrückt hat und über den ich nicht sprechen konnte. Das musste mal geschrieben werden«, sagte Grass. Und so schreibt er offen, dass er sich als Kind und Jugendlicher in der NS-Zeit hat ideologisch verführen lassen.
Auf die Waffen-SS-Zugehörigkeit von Grass haben deutsche Literaten mit Betroffenheit, scharfer Kritik, aber auch Verständnis für das späte Eingestehen reagiert. Der Hitler-Biograf und NS-Experte Prof. Joachim Fest griff Grass an. Er verstehe nicht, »wie sich jemand 60 Jahre lang ständig zum schlechten Gewissen der Nation erheben kann, gerade in Nazi-Fragen - und dann erst bekennt, dass er selbst tief verstrickt war«, sagte Fest. Autor Martin Walser erklärte dagegen: »Das wirft ein vernichtendes Licht auf unser Bewältigungsklima mit seinem normierten Denk- und Sprachgebrauch.«
Nach Ansicht von Ralph Giordano (83) kommt das Bekenntnis von Grass nicht zu spät. »Für mich verliert er durch diese Öffnung nicht an moralischer Glaubwürdigkeit«, sagte er. Schriftsteller Walter Jens (83) zollte in Tübingen dem Kollegen seinen »Respekt«.
Enttäuscht über den Literaturpreisträger erwägt der tschechische PEN-Club, Grass den Karel-Capek-Preises zu entziehen. Der polnische Ex-Präsident und Friedensnobelpreisträger Lech Walesa hat den Schriftsteller zur Rückgabe seiner Ehrenbürgerschaft der Stadt Danzig aufgefordert: »Wenn bekannt geworden wäre, dass er in der SS war, hätte er die Auszeichnung nicht bekommen.«

Artikel vom 14.08.2006