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»Vereinte Nationen müssen jetzt ihre Stärke beweisen«

Heute im Gespräch: Shlomo Avineri, früher Berater von Jitzhak Rabin

Bielefeld (WB). Erst die Schwäche der Vereinten Nationen hat es der Hisbollah ermöglich, im Libonon einen Staat im Staate zu schaffen, sagt Shlomo Avineri, früher Berater von Jitzhak Rabin, im Gespräch mit Reinhard Brockman.
Seit vier Wochen beschießt die Hisbollah Israel. Wie groß ist das Gefühl der Unsicherheit?Avineri: Sehr groß. Fast eine Million Bürger im Norden haben ihr Heim verlassen oder sitzen in den Kellern der Häuser. Israel hat das noch nie erlebt. So etwas kann auch in Europa kein Staat zulassen.

Haben Sie Angst um Ihr Leben?Avineri: Klarerweise nicht. Ich bin in Jerusalem, aber es geht nicht um mich. Der Punkt ist, dass eine Terrororganisation entlang unserer Nordgrenze operiert, die einen Teil des Nachbarlandes gekidnappt hat. Das wird von der internationalen Gemeinschaft als inakzeptabel bewertet. In diesem Sinne ist der Libanonkrieg ganz anders als der palästinensisch-israelische Konflikt. Die Hisbollah hat einen Staat im Staate errichtet und die Regierung in Beirut von ihren Hoheitsrechten in Südlibanon getrennt. Das Ziel der Hisbollah ist die Zerstörung Israels auf der Grundlage eines fundamentalistischen, radikalen Ideologie.

Ist dies die Stunde der Vereinten Nationen?Avineri: Deren Möglichkeiten positiv zu wirken werden sich in den nächsten Tagen erweisen - oder auch nicht. Die UN haben in den letzten Jahren keinen guten Ruf erworben, als es um tief gehende internationale Konflikte ging. Im Falle des ehemaligen Jugoslawiens haben sie ebenso versagt, wie in Ruanda. Sie scheitern auch jetzt im Fall Sudan, wo es um Völkermord in Darfur geht. Das Problem der Vereinten Nationen sind nicht die großen Ideen, sondern ist die Durchsetzungskraft.

Eine UN-Resolution zur Entwaffnung der Hisbollah ist seit 2004 nicht erfüllt. Sind die Chancen mit dem Krieg gestiegen?Avineri: Möglicherweise gibt es durch Krisen neue Möglichkeiten. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass die schwache libanesische Armee in der Lage ist, die Hisbollah zu entwaffnen. Dazu ist unter Umständen Gewalt erforderlich. Das ist in der politischen Situation des Libanon kaum denkbar. Deshalb wären multinationale Einheiten wie in Bosnien und Kosovo für mich die Lösung.

Ministerpräsident Ehud Olmert wünscht auch deutsche Soldaten in einer Schutztruppe. Avineri: Das Wort »wünschen« geht zu weit. Ich sehe noch einen langen Weg bis zu einer internationalen Schutztruppe. Als diese Idee erstmals aufkam, hat sich der Zentralrat der Juden klar gegen eine deutsche Beteiligung ausgesprochen. Ich verstehe Ministerpräsident Olmert so, dass die Gründe des Zentralrats, verständlich wie sie sind, in der gegenwärtigen Situation nicht maßgebend sind für die Regierung von Israel. Hier stehen strategische Überlegungen über moralisch-historischen Zusammenhängen.

Wollen alle Israelis deutsche Soldaten dabei haben?Avineri: Wenn also eine robuste internationale Truppe aufgestellt werden sollte, wird eine Mehrheit der Israelis einer deutscher Beteiligung zustimmen. Nur ein Minderheit wird sich gegen deutsche Soldaten aussprechen. Allerdings sind wir von einem solchen Schritt noch sehr weit entfernt. Sogar der Resolutionsentwurf der USA und Frankreichs spricht noch nicht von multinationalen Einheiten, sondern von einem Waffenstillstand und der bloßen Möglichkeit einer solchen Truppe in der Zukunft. Hier liegt die eigentliche Herausforderung der Vereinten Nationen: Ob man nicht nur schön redet - Predigten kann ich jeden Tag in der Kirche, Moschee und Synagoge hören -, sondern ob man anders handelt als im Völkerbund zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg. Damals wurden zwar die richtigen Floskeln benutzt, man konnte sich aber nicht durchsetzen. Leider sehe ich nicht, dass das inzwischen ganz anders wäre.

Angesichts der Bilder von beiden Seiten der Grenze wünscht man sich, dass die Waffen möglichst schnell schweigen.Avineri: Waffenruhe allein löst noch kein Problem. Mit der Resolution 1559 von 2004 ist klar, worum es geht: dass die Regierung von Libanon überall ihre Souveränität ausüben kann und illegitime Milizen entwaffnet werden müssen. Die Tragödie ist, dass die internationale Gemeinschaft Libanon in den vergangenen Jahren im Stich gelassen hat.

Artikel vom 12.08.2006