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Vertrieben aus vielerlei Gründen,
geprägt vom stets gleichen Leid

Europaweiter Blick zeichnet Ausstellung im Berliner Kronprinzenpalais aus

Von Esteban Engel
Berlin (dpa). Die Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen eröffnet heute in Berlin ihre Ausstellung über Flucht und erzwungene Migration im 20. Jahrhundert. Bis Ende Oktober zeichnet die Ausstellung im Kronprinzenpalais Unter den Linden das Schicksal von Europas Heimatlosen nach.

Von Tabubruch ist die Rede, von Revanchismus und Provokation: Die Pläne für ein Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin stoßen seit Jahren auf heftige Proteste. Die von der Vertriebenen-Chefin Erika Steinbach geleitete Stiftung lässt aber nicht locker. Die CDU-Bundestagsabgeordnete eröffnet persönlich die Würdigung des Schicksals von Millionen Menschen, die ihrer Heimat beraubt wurden.
Ganz bewusst im Vordergrund steht die europäische Dimension. Das Los der 15 Millionen Deutschen, die unter Zwang die Ostgebiete verlassen mussten, erscheint nicht in hervorgehobener Stellung, sondern als Teil eines europäischen Dramas. Dafür hatte immer wieder auch der verstorbene SPD-Politiker Peter Glotz plädiert, der aus Böhmen stammte und Befürworter eines Vertriebenen-Zentrums war.
Ob Armenier, Jude oder Bosnier - die Geschichte Europas ist auch eine Geschichte von Vertreibung, Flucht und Genozid. Auf 600 Quadratmetern werden Beispiele europäischer Schicksale gezeigt - vom Völkermord an den Armeniern 1915-1916 über die Vertreibung der Deutschen bis hin zu den »ethnischen Säuberungen« im ehemaligen Jugoslawien.
Die Vertreibung der Juden Europas von 1933 an wird nach einem Wort des israelischen Historikers Moshe Zimmermann als »Baustein des Holocaust« dokumentiert. Diese Ereignisse sollen jeweils »in ihrem historischen Kontext« dargestellt werden. Die Schicksale sollten nicht verglichen werden, jede Untat sei anders als die vorige Untat, sagt Kurator Wilfried Rogasch.
Aber auch von »traumatischen und existenziellen Erfahrungen der Leidtragenden« werde berichtet. Der Verlust von Heimat hinterlässt bei den Opfern tief greifende seelische Schäden. Die Ausstellung will Raum für Gefühle bieten und zeigt Objekte, die von der Flucht zeugen: Die Glocke des 1945 mit 9000 Flüchtlingen von der Roten Armee versenkten Dampfers »Wilhelm Gustloff«, ein Hutkoffer, das Matchbox-Auto eines nordzypriotischen Kindes, der tschechische Reisepass von Franz Werfel.
Die Ausstellungsmacher wollen »keine Gewichtung der Leiden jedes einzelnen Betroffenen vornehmen«, sondern Ralph Giordanos Postulat »Die Humanitas ist unteilbar« als Grundlage ansehen. Für das Projekt hat die Stiftung Wissenschaftler und Publizisten gewonnen, unter anderem die Historiker Arnulf Baring, Lothar Gall und Christoph Stölzl, der Fernsehpublizist Guido Knopp und der frühere Bundesminister Otto Graf Lambsdorff, der einer aus dem Baltikum stammenden Adelsfamilie angehört.
Bei der Eröffnung werden Bundestagspräsident Norbert Lammert, der ungarische Schriftsteller György Konrad und der frühere Beauftragte für die Stasi-Unterlagenbehörde, Joachim Gauck, sprechen. Zwar befürwortet auch die große Koalition ein »sichtbares Zeichen« zum Gedenken an Vertreibungen in Berlin - allerdings in Zusammenarbeit mit dem 2005 in Warschau gegründeten Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität.
Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) sprach sich dafür aus, die bereits laufende Ausstellung »Flucht, Vertreibung, Integration« als Grundstock für die Erinnerung an die Vertriebenen zu nehmen. Die Schau, die bis zum 13. August im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen ist, blickt weniger auf die Zeit unmittelbar nach dem Krieg. Sie zeichnet vor allem die erfolgreiche Integration der Vertriebenen in der Bundesrepublik nach.

Artikel vom 10.08.2006