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13Die Weingläser waren gespült und weggeräumt, und das Feuer im Kamin erlosch langsam. Er wollte ein wenig Mozart hören, ehe er sich ins Bett begab. Er entschied sich für den zweiten Akt aus der Hochzeit des Figaro, und die Stimme von Kiri Te Kanawa, sicher, stark und herzzerreißend schön, erfüllte das Cottage. Es war eine CD, die auch er und Emma sich in seiner Wohnung über der Themse angehört hatten. Die Steinwände des Cottage waren zu einengend, um die Schönheit wirklich zu fassen, und er öffnete erneut die Tür, die auf die Landzunge führte, und ließ die Sehnsucht der Gräfin nach ihrem Geliebten in die sternenklare Nacht hinaus. An der Außenmauer des Cottage war ein Sitzplatz, und er lehnte sich zurück und lauschte. Als der Akt zu Ende war, ging er hinein und schaltete den CD-Player aus, trat dann noch einmal vor die Tür, um einen letzten Blick auf den Nachthimmel zu werfen.
Eine Frau wanderte aus Richtung von Adrian Boydes Cottage über die Landzunge. Sie sah ihn und blieb stehen. Er hatte sie gleich an ihrem selbstbewussten Gang und dem kurzen Schimmer des Sternenlichts auf ihrem hellen Haar erkannt, und nach kurzem Zögern kam Jo Staveley auf ihn zu.
Er sagte lächelnd: »Dann machen Sie also doch manchmal Abendspaziergänge.«
»Nur wenn es einen Grund dafür gibt. Ich dachte, Adrian sollte nicht allein sein. Es war für uns alle ein grässlicher Tag, aber für ihn war es die Hölle, also hab ich das Osso buco bei ihm gegessen. Leider ist er Abstinenzler. Ich könnte ein Glas Wein gebrauchen, wenn es nicht zu viele Umstände macht. Guy ist bestimmt längst im Bett, und ich trinke nicht gern allein.«
»Es macht überhaupt keine Umstände.«
Sie folgte ihm ins Cottage. Dalgliesh öffnete die zweite Flasche Rotwein und brachte sie mit zwei Gläsern zum Tisch. Sie trug eine rote Jacke, deren Kragen sie hochgeschlagen hatte, so dass er ihr Gesicht umrahmte, die sie jetzt auszog und über die Stuhllehne hängte. Wortlos nahmen sie einander gegenüber Platz. Dalgliesh schenkte den Wein ein. Zuerst trank sie ihn gierig wie Wasser, dann stellte sie das Glas auf den Tisch, streckte die Beine aus und seufzte zufrieden. Das Feuer war fast aus, und nur vom letzten verkohlten Holzscheit stieg noch ein dünner Rauchstreifen auf. Dalgliesh genoss die Stille und fragte sich, ob Gäste gelegentlich nicht mit der Ruhe und Einsamkeit klarkamen und gleich wieder in den verführerischen Bann ihres vom Testosteron angetriebenen Lebens zurückkehrten. Er äußerte die Frage laut.

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ie lachte. »Das ist schon vorgekommen, habe ich jedenfalls gehört, allerdings nur selten. Die Leute wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie herkommen. Sie bezahlen schließlich für die Ruhe hier, und glauben Sie mir, die ist nicht billig. Haben Sie nie das Gefühl, dass sie gleich durchdrehen, wenn sie noch eine Frage beantworten müssen, noch ein Telefon klingeln hören oder noch ein Gesicht sehen? Und dann ist da der Sicherheitsaspekt. Bei der ganzen Angst vor Terrorismus und Kidnapping und so weiter muss es doch ein wahrer Segen sein, hier bei offenen Fenstern und Türen schlafen zu können, ohne dass Bodyguards oder die Polizei einem ständig auf der Pelle hängen.«
Dalgliesh fragte: »Ist es nach Olivers Tod mit dieser Illusion nicht ein für alle Mal vorbei?«
»Ich glaube kaum. Combe wird sich davon erholen. Die Insel hat Schlimmeres überstanden und vergessen als nur das Ende von Nathan Oliver.«
Er sagte: »Die allgemeine Abneigung gegen Oliver scheint tiefer gehende Gründe zu haben als nur sein unkooperatives Verhalten als Gast. Ist zwischen ihm und Adrian Boyde irgendetwas vorgefallen?«
»Warum fragen Sie mich das?«
»Weil Mr. Boyde Ihr Freund ist. Sie kennen ihn wahrscheinlich besser, als jeder andere Inselbewohner. Somit sind Sie es, die am ehesten die Wahrheit kennt.«
»Und diejenige, die sie Ihnen am ehesten erzählen wird?«
»Vielleicht.«
»Haben Sie ihn selbst gefragt? Haben Sie mit Adrian gesprochen?« Sie trank den Wein langsamer und mit offensichtlichem Genuss.
»Nein, noch nicht.«
»Dann tun SieÕs auch nicht. Hören Sie, kein Mensch - nicht mal Sie - glaubt ernsthaft, dass Adrian irgendwas mit Olivers Tod zu tun hat. Er ist zu Mord ebenso wenig fähig wie Sie oder ich, wahrscheinlich sogar noch viel weniger. Also warum ihn quälen? Warum in der Vergangenheit graben, wenn diese letztendlich nichts mit Olivers Tod zu tun hat, nichts mit Ihrem Job oder dem Grund Ihres Hierseins?«
»Leider gehört es zu meinem Job, in der Vergangenheit zu wühlen.«
»Sie sind ein erfahrener Detective. Wir haben von Ihnen gehört. Also erzählen Sie mir nicht, dass Sie Adrian allen Ernstes verdächtigen. Wühlen Sie nicht einfach gern im Dreck, weil es Spaß macht - weil es Ihnen ein Gefühl der Macht gibt, wenn Sie so wollen? Ich meine, es muss doch ein befriedigendes Gefühl für Sie sein, ständig Fragen zu stellen, die wir beantworten müssen. Tun wirÕs nicht, wirken wir schuldig. Tun wirÕs, wird die Privatsphäre anderer verletzt. Und wofür? Erzählen Sie mir nicht, es ginge dabei um Gerechtigkeit oder Wahrheit. ÝWas ist Wahrheit?, fragte Pilatus spöttisch - und wartete die Antwort nicht ab.Ü Dieser Pilatus war gar nicht so dumm.«

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as Zitat überraschte ihn, aber wieso sollte sie eigentlich nicht Francis Bacon gelesen haben? Er war eher verwundert, dass sie so leidenschaftlich sein konnte, und doch fühlte er sich trotz der Heftigkeit ihrer Worte nicht persönlich angegriffen. Er war lediglich ein Ersatz. Das eigentliche Ziel ihres Hasses war für immer außer Reichweite.
Er sagte sanft: »Ich habe keine Zeit für halbphilosophische Diskussionen über Gerechtigkeit und Wahrheit. Ich kann manches vertraulich behandeln, allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt. Mord zerstört die Privatsphäre - die Privatsphäre der Verdächtigen, der Angehörigen des Opfers, aller, die mit dem Tod in Berührung kommen. Ich bin es reichlich satt, das Leuten immer wieder zu erklären, aber man muss sich damit abfinden. Und vor allem zerstört Mord die Privatsphäre des Opfers. Sie meinen, Sie haben das Recht, Ihren Freund zu schützen. Nathan Oliver kann vor niemandem mehr geschützt werden.«
»Wenn ich es Ihnen verrate, werden Sie es dann als wahr akzeptieren und Adrian in Ruhe lassen?«
»Das kann ich Ihnen nicht versprechen. Doch wenn ich die Fakten kenne, wird es leichter für mich sein, ihn bei der Vernehmung nicht unnötig zu quälen. Wir legen es nicht darauf an, andere leiden zu lassen.«
»Ach nein? Schon gut, schon gut, ich will Ihnen mal glauben, dass es keine Absicht ist. Wer weiß, was für ein Mensch Sie sonst wären.«

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r verkniff sich eine bissige Bemerkung, und es fiel ihm noch nicht einmal schwer. Er erinnerte sich, was ihm bei der Besprechung im New Scotland Yard erzählt worden war. Ihr Mann hatte den Tod eines Kindes zu verantworten. Es war ein ärztlicher Fehler gewesen, und trotzdem hatte sich die Polizei kurzfristig eingeschaltet. Ein übereifriger Beamter genügte als Erklärung für ihren Groll und ihre Verbitterung.
Sie schob ihr leeres Glas zu ihm, und er schenkte ihr nach.
Er fragte: »Ist Adrian Boyde Alkoholiker?«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich weiß es nicht. Erzählen Sie mir, was passiert ist?«
»Es geschah während eines wichtigen Gottesdiensts mit heiliger Kommunion. Jedenfalls hat Adrian den Abendmahlskelch fallen lassen und ist sturzbesoffen umgekippt. Oder er ist sturzbesoffen umgekippt und hat den Abendmahlskelch fallen lassen. Er hatte die Gemeinde übernommen, an der früher Mrs. Burbridges Mann Vikar war, und einer der Kirchenvorsteher wusste, dass Mrs. Burbridge hierher gezogen war, und wahrscheinlich hatte er einiges über Combe Island gehört. Er hat unseren vorherigen Verwalter angeschrieben und ihn gebeten, Adrian einzustellen. Adrian ist absolut kompetent. Er konnte bereits mit einem Computer umgehen, und er kennt sich mit Buchhaltung aus. Zunächst lief alles gut. Er war über ein Jahr hier, trocken, und wir hatten gehofft, dass er trocken bleiben würde. Und dann passierte es. Nathan Oliver kam mal wieder zu seinem vierteljährlichen Besuch. Eines Abends lud er Adrian zu sich zum Abendessen ein und gab ihm Wein zu trinken. Natürlich war das fatal. Alles, was Adrian hier erreicht hatte, wurde an einem Abend zunichte gemacht.«
»Wusste Oliver, dass Boyde Alkoholiker war?«
»Natürlich wusste er das. Deshalb hatte er ihn ja eingeladen. Es war alles geplant. Er schrieb gerade an einem Buch, in dem ein Trinker vorkam, und er wollte mit eigenen Augen erleben, was passiert, wenn man einem Alkoholiker Wein gibt.«
Dalgliesh fragte: »Aber warum gerade hier? Ich kenne Dutzende Londoner Clubs, in denen er einen Absturz in den Vollrausch hätte beobachten können. Das kommt ja nicht gerade selten vor.«
»Jeden Samstagabend irgendwo auf der Straße. O nein, das wäre nicht dasselbe gewesen. Oliver brauchte jemanden, der gegen seine Dämonen ankämpfte. Er wollte die Situation kontrollieren können und jeden Moment genau studieren. Ich vermute, es war ihm außerdem wichtig, sein Opfer bei der Hand zu haben, wenn er an diesem Punkt seines Romans angelangt war.«(wird fortgesetzt)

Artikel vom 16.09.2006