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Diese Stunde im gemeinsamen Gespräch oder Schweigen, bei noch immer zur Nacht hin geöffneter Cottagetür, während der rötliche Schimmer des Feuers über den Steinboden tanzte und es nach Wein und Kaffee roch, kam für sie der gemütlichen, geborgenen Häuslichkeit am nächsten, die sie als Kind nie erlebt hatte und die sie sich als Kern jedes Familienlebens vorstellte.
AD hatte seine Karte von der Insel auf dem Tisch ausgebreitet. Er sagte: »Natürlich können wir davon ausgehen, dass wir es mit einem Mordfall zu tun haben. Ich möchte das Wort gegenüber den Leuten hier auf Combe Island noch nicht benutzen, solange ich nicht die Bestätigung von Dr. Glenister habe. Mit etwas Glück bekomme ich die morgen Mittag. Lassen Sie uns die Fakten zusammenfassen. Doch zuerst sollten wir uns für unseren mutmaßlichen Mörder einen Namen überlegen. Irgendwelche Vorschläge?«

K
ate kannte diese unvermeidliche Angewohnheit ihres Chefs, und sie kannte seine Abneigung gegen Verniedlichungsformen und Spitznamen. Sie hätte darauf vorbereitet sein müssen, aber jetzt fiel ihr auf Anhieb nichts ein.
Benton sagte: »Wir könnten ihn Smeaton nennen, Sir, nach dem Planer des Leuchtturms von Plymouth Hoe. Der hier ist ja ein Nachbau.«
»Das wäre aber einem so genialen Ingenieur gegenüber reichlich unangemessen.«
Benton hatte erneut eine Idee. »Oder wie wärÕs mit Calcraft, dem Henker aus dem neunzehnten Jahrhundert?«
»Gut, nehmen wir Calcraft. Also Benton, was wissen wir bis jetzt?«
Benton schob sein Weinglas ein wenig zur Seite. Er sah Dalgliesh in die Augen. »Das Opfer, Nathan Oliver, kam regelmäßig jedes Vierteljahr nach Combe, immer für zwei Wochen. Diesmal traf er am Montag mit seiner Tochter Miranda und seinem Sekretär Dennis Tremlett ein. Das war nicht ungewöhnlich. Einiges von dem, was wir wissen, beruht auf Informationen, die wir noch nicht überprüfen konnten, aber nach Aussage seiner Tochter verließ er Peregrine Cottage heute Morgen gegen sieben Uhr zwanzig, und zwar ohne sein übliches warmes Frühstück. Die Leiche wurde um zehn Uhr vormittags von Rupert Maycroft entdeckt, unmittelbar darauf kamen Daniel Padgett, Guy Staveley, Jago Tamlyn, Millie Tranter und Emily Holcombe hinzu. Wie wir wissen, wurde Oliver erwürgt, entweder in dem Raum unter der Laterne des Leuchtturms oder auf der kreisrunden Plattform darüber. Calcraft holte anschließend das Kletterseil, knotete es um Olivers Hals, band das Seil an das Geländer und wuchtete den Körper hinüber. Calcraft muss daher genügend Kraft haben, Olivers schlaffen Körper, wenn schon nicht die kurze Treppe hinaufzutragen, so doch zumindest, ihn über das Geländer zu hieven.

D
r. Speidels Aussage scheint, wie Sie sagten, Sir, nicht ganz vollständig zu sein. Er hatte an Oliver eine Nachricht geschrieben, in der er ihn um ein Treffen heute Morgen um acht Uhr im Leuchtturm bat. Die Nachricht wurde Millie Tranter in einem Umschlag übergeben, und sie sagt, sie habe ihn am Peregrine Cottage in den Briefkasten gesteckt. Sie gibt zu, die Notiz gelesen und Jago von der Verabredung erzählt zu haben. Auch Miranda Oliver und Tremlett könnten den Brief gelesen haben, ebenso wie jeder andere, der sich Zugang zu dem Wagen verschaffte, als der Brief sich dort im Postsack befand. Hat Oliver ihn je erhalten? Falls nicht, warum ist er dann zum Leuchtturm gegangen? Und wenn das Treffen um acht Uhr stattfinden sollte, wieso verließ er dann schon um zwanzig nach sieben das Haus? Wurde die Uhrzeit in dem Brief vielleicht geändert, und wenn ja, von wem? Die Acht hätte durchgestrichen und zu halb acht abgeändert werden können. Aber das wäre wohl absurd. Damit hätte Calcraft nur dreißig Minuten gewonnen, um sich mit Oliver zu treffen, den Leuchtturm zu erklimmen, den Mord zu begehen und zu fliehen, immer vorausgesetzt, dass Oliver pünktlich war. Natürlich hätte Calcraft auch den Originalbrief vernichten und durch einen anderen ersetzen können. Aber dann wäre es immer noch lächerlich, den Zeitpunkt der Verabredung um nur dreißig Minuten zu verändern.
Außerdem ist da die Sache mit der Tür des Leuchtturms. Speidel behauptet, sie war verschlossen, als er eintraf. Das bedeutet, jemand muss darin gewesen sein - Oliver, der Mörder oder beide. Als Speidel rund fünfundzwanzig Minuten später wiederkam, stand die Tür offen, und ihm fiel auf, dass das Seil fehlte. Er hat nichts gehört. Wie hätte er auch, schließlich wurde die Tat ja möglicherweise ganz oben im Leuchtturm begangen. Aber vielleicht lügt Speidel. Wir haben nur sein Wort dafür, dass der Leuchtturm verschlossen war und dass er Oliver nicht getroffen hat. Möglicherweise hat Oliver ihn wie geplant erwartet, und Speidel hat ihn getötet. Für den genauen Zeitpunkt des Todes müssen wir bislang auf Speidels Aussage vertrauen. Doch warum hat er ausgerechnet den Leuchtturm für ein Treffen vorgeschlagen? Wir wissen, dass er Mr. Dalgliesh angelogen hat, als er ihm erzählte, Leuchttürme seien sein Hobby.«

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ate meldete sich zu Wort: »Sie sollen die Fakten zusammenfassen, nicht Mutmaßungen anstellen. Es gibt noch mehr, was wir definitiv wissen. Oliver war immer ein schwieriger Gast, diesmal scheint er sich jedoch exzentrischer als sonst verhalten zu haben. Da wäre die Szene am Hafen, als er erfuhr, dass seine Blutprobe verloren gegangen war, seine anschließende Beschwerde bei Maycroft, seine wiederholte Forderung, Emily Holcombe aus Atlantic Cottage zu vertreiben und die Szene beim Dinner am Freitagabend. Und dann ist da noch Mirandas Verlobung mit Tremlett. Da haben sich doch alle drei ziemlich merkwürdig verhalten, oder? Oliver kehrt spätabends vom Dinner zurück, als Miranda bereits im Bett ist, und verlässt das Haus wieder, bevor sie aufsteht. Sieht aus, als wäre er ihr bewusst aus dem Weg gegangen. Und wieso hatte er für den Nachmittag die Barkasse bestellt? Für wen? Glauben wir Mirandas Version, dass er nichts gegen die Heirat hatte? Ist das die plausible Reaktion eines Mannes, der sich seiner Arbeit so egoistisch verschrieben hatte, dass nichts und niemand ihn in seinen Kreisen stören durfte? Oder liegt das Motiv sehr viel weiter in der Vergangenheit?«
Dalgliesh fragte: »Wenn ja, wieso hat Calcraft dann bis zu diesem Wochenende gewartet? Oliver kam regelmäßig auf die Insel. Die meisten unserer Verdächtigen hätten auch früher reichlich Zeit und Gelegenheit gehabt, Rache zu nehmen. Und Rache wofür? Ausgerechnet dieses Wochenende auszusuchen wäre unklug gewesen, wo sich nur zwei andere Gäste hier aufhalten und die Teilzeitkräfte auf dem Festland sind, denn damit beläuft sich die Zahl der Verdächtigen auf gerade mal dreizehn Personen. Fünfzehn, falls wir Mrs. Plunkett und Mrs. Burbridge hinzurechnen.«
Benton sagte: »Umgekehrt hat das auch Vorteile, Sir. Weniger Personen, die verdächtigt werden können, aber bessere Voraussetzungen, um sich ungesehen bewegen zu können.«

K
ate meinte: »Es sieht allerdings so aus, als hätte Calcraft an diesem Wochenende handeln müssen. Was hat sich also seit Olivers letztem Besuch geändert? Zwei Personen sind angekommen, die nicht da waren, als Oliver vor drei Monaten hier war, Dr. Speidel und Dr. Yelland. Es gab den Vorfall mit der verlorenen Blutprobe, der Oliver zu der Drohung veranlasste, sich dauerhaft hier niederzulassen. Und dann ist da die Verlobung von Tremlett und Miranda. Es fällt schwer, sie als Mörderin zu sehen, dennoch könnte sie die Tat mit Tremlett geplant haben. Offensichtlich ist sie die Stärkere von den beiden.«
Dalgliesh sagte: »Sehen wir uns mal die Karte an. Calcraft hätte zum Leuchtturm gehen können, weil er entweder eine Verabredung mit Oliver hatte - ein auffälliges Treffen ist zwar unwahrscheinlich, aber wir haben schon Unglaublicheres erlebt -, oder weil er den Brief gelesen und die Zeit abgeändert hatte, oder weil er Oliver auf dem Weg zum Leuchtturm gesehen hatte und ihm gefolgt war. Die geeignete Route wäre die über die untere Klippe. Dieser Weg bietet sich förmlich all jenen an, die auf der Südwestseite der Insel wohnen: die Staveleys, Dan Padgett, Roughtwood und Miss Holcombe. Außerdem gibt es noch eine tiefere Klippe, die sich auf der Ostseite bis jenseits von Chapel Cottage erstreckt, doch sie wird durch den Hafen unterbrochen. Und wir dürfen nicht vergessen, dass der Brief am Vorabend abgeliefert wurde. Calcraft hätte schon Freitagnacht im Schutze der Dunkelheit zum Leuchtturm gehen und dort bis früh am Samstagmorgen warten können. Außerdem besteht die Möglichkeit, dass er sich keine Gedanken darum gemacht hat, ob ihn jemand sieht, weil er zu diesem Zeitpunkt noch keine Mordabsicht hegte. Vielleicht war es keine vorsätzliche Tat, eher Totschlag als Mord. Im Augenblick tappen wir noch im Dunkeln. Wir brauchen Dr. Glenisters Obduktionsbericht, und wir müssen Dr. Speidel erneut befragen. Hoffen wir, dass es ihm bald besser geht.«
Eine Stunde später war es an der Zeit, mit den Überlegungen aufzuhören. Der morgige Tag würde anstrengend werden. Dalgliesh erhob sich, und Kate und Benton standen ebenfalls auf. Der Commander sagte: »Wir treffen uns morgen nach dem Frühstück und machen unsere Tagesplanung. Nein, lassen Sie die Gläser stehen, Benton. Ich kümmere mich darum. Schlafen Sie gut.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 15.09.2006