13.09.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Wer immer ihn zum Leuchtturm gelockt hat, wird nicht geplant haben, ihn oben bei der Laterne umzubringen. Dort ist das Risiko, gesehen zu werden, einfach zu groß.«
Kate wandte ein: »Nun, nicht auf der Seite zum Meer hin. Und es wäre einfacher, als einen toten Körper die letzte enge Treppe hoch und auf die Plattform zu schleppen. Sie könnte vorgeschlagen haben, sich an der frischen Luft zu unterhalten. Außerdem war er nicht eben schwer. Ich denke, sie könnte ihn über das Geländer gestoßen haben. Allerdings hätte sie ihn dazu anheben müssen. Leicht wäre das nicht gewesen.«
Benton-Smith fragte: »Meinen Sie, Roughtwood würde für sie töten oder ihr dabei helfen?«

W
oher soll ich das wissen, Sergeant? Es hat wenig Sinn, über Motive oder Komplizenschaft zu spekulieren, ehe wir nicht die eventuellen Alibis geprüft haben und wissen, wer definitiv aus dem Schneider ist. Was wir brauchen sind Fakten. Mal angenommen, er hat ein Fahrrad benutzt, wie groß war das Risiko, gesehen zu werden?«
»Nicht sehr groß. Jedenfalls nicht, solange er auf dem Weg geblieben ist. Der liegt tief genug, um ihn vor Blicken zu schützen, wenn er den Kopf unten gehalten hat. Und das Loch im Reifen könnte von einem Messer stammen. Sehen Sie sich den Pfad hier mal an: stoppeliges Gras, sandiger Boden, runde Kiesel bis auf wenige Ausnahmen. Er könnte jedoch auch an der unteren Klippe entlanggefahren sein. Da hätte er sich garantiert einen Platten geholt. Ein spitzer Stein würde ein ähnliches Loch verursachen wie eine Messerspitze. Aber ich vermute, der Reifen wurde absichtlich aufgeschlitzt, womit auch immer.«

W
as nicht unbedingt heißen muss, dass er schuldig ist. Vielleicht hat er es selbst gemacht, weil er dachte, so wäre er raus aus der Sache und wir würden die beiden in Ruhe lassen.«
»Wieso hat er sich dann nicht überzeugender angestellt?«
»Keine Zeit. Die Idee ist ihm vielleicht erst kurz vor unserem Eintreffen gekommen. In dem Schuppen waren Werkzeuge und Scheren. Irgendwas Spitzes hätte genügt.«
»Aber MaÕam, wenn Mord und Alibi geplant waren, hätte er das Fahrrad dann nicht schon früher kaputtgemacht?«
»Das ist eine Überlegung wert, Sergeant.«
Das restliche Stück zum Haus legten sie wortlos zurück, doch diesmal empfand Kate das Schweigen nicht als unangenehm. Sie spürte, dass behutsam eine kleine Bresche in die Mauer geschlagen worden war.


11
E
s war interessant, dachte Dalgliesh, wie unterschiedlich die Cottages, die er bisher gesehen hatte, zumindest von außen waren. Als hätte sich der Architekt alle Mühe gegeben, trotz simpler Vorgaben den Eindruck von gelenkter Monotonie zu vermeiden. Seal Cottage versprach, eines der gelungensten zu sein. Es war nur knapp zehn Meter vom Klippenrand entfernt erbaut worden, und die Anordnung der Fenster und die Proportionen von Steinmauern und Dach ließen bei aller Schlichtheit eine ansprechende Symmetrie erkennen. Es gab nur zwei Haupträume, ein großes Schlafzimmer und eine moderne Dusche in der oberen Etage und ein Wohnzimmer mit Küche im Erdgeschoss. Auf zwei Seiten waren Fenster, so dass das Cottage lichtdurchflutet war. Und für sein persönliches Wohlbefinden war gesorgt worden, er vermutete von Mrs. Burbridge. In dem breiten gemauerten Kamin lagen Holzscheite und rauchfreie Anzünder bereit. In der Wandnische links davon bemerkte er die Eisentür eines Ofens zum Brotbacken, und als er sie öffnete, entdeckte er darin weiteres Brennholz. Das Mobiliar war spärlich, aber fein. Zwei Sessel flankierten den Kamin, und ein schlichter Tisch mit zwei Stühlen stand in der Mitte des Zimmers. Unter einem der Fenster mit Meerblick befand sich ein funktionaler moderner Schreibtisch. Die Küche war eigentlich nur eine Küchenzeile, allerdings mit einem kleinen Wasserkocher und einer Mikrowelle gut ausgestattet. Es gab einen üppigen Vorrat an Orangen und eine elektrische Saftpresse, und der Kühlschrank enthielt Milch, sechs Eier, vier Scheiben Schinkenspeck - nicht in Zellophan verpackt, sondern in einer Plastikdose -, eine Portion Crème brûlée und einen Laib offensichtlich selbst gebackenen Brots.

A
uf einem Brett im Schrank waren kleine Packungen Frühstücksflocken und ein Schraubglas mit Müsli. In einem weiteren Schrank befanden sich Geschirr und Besteck für eine Person sowie drei Tassen und drei Weingläser. Außerdem war er mit drei Flaschen neuseeländischem Sauvignon Blanc und drei Flaschen 94er Château Batailley versorgt worden, einem feinen Wein, den man nicht mal einfach so becherte. Er fragte sich, wer den wohl bezahlt hatte - und ob weniger großzügige Naturen den Wein vielleicht entweder als Bestechung betrachten würden oder als gezielten Versuch, ihn zum Trinken zu animieren. Wie lange die Flaschen wohl halten sollten, überlegte er. Entsprach die Menge Mrs. Burbridges gut gemeinter Schätzung, wie viel drei Polizeibeamte in zwei Tagen tranken, und würde der Vorrat aufgefüllt werden, wenn die Flaschen leer waren?

E
s gab noch weitere Hinweise für Mrs. Burbridges Sorge um sein Wohlergehen, die ihn amüsierten. Offenbar hatte sie sich Gedanken über seine Persönlichkeit und seinen Geschmack gemacht. In den Nischen auf beiden Seiten des Kamins waren Bücherregale eingebaut, die vermutlich sonst leer waren, damit die Gäste ihre mitgebrachte Lektüre dort aufbewahren konnten. Mrs. Burbridge hatte für ihn etwas aus der Bibliothek ausgewählt: George Eliots Middlemarch, der unangefochtene literarische Beistand für einsame Inselaufenthalte, und vier Lyrikbände: Browning, Housman, Eliot und Larkin. Es gab zwar keinen Fernseher, aber dafür eine moderne Stereoanlage, und Mrs. Burbridge hatte ein paar CDs für ihn entweder ausgesucht oder wahllos zusammengestellt. Sie waren so unterschiedlich, dass sie einen unkapriziösen Geschmack zumindest eine Weile befriedigen konnten. Bachs h-Moll-Messe und seine Cello-Suiten gespielt von Paul Tortelier, Lieder von Finzi, James Bowman mit Arien von Händel und Vivaldi, Beethovens 9. Sinfonie und Mozarts Hochzeit des Figaro. Seine Vorliebe für Jazz war anscheinend nicht berücksichtigt worden.

D
algliesh hatte nicht vorgeschlagen, dass das Team gemeinsam zu Abend essen und dabei den Fall diskutieren sollte. Das Essen aufzutischen, sich in einer fremden Küche zurechtzufinden und schließlich das Geschirr abzuwaschen, das alles wäre zu zeitraubend gewesen und hätte eine konzentrierte Diskussion verzögert. Er ging davon aus, dass Kate und Benton lieber in ihren eigenen Apartments essen wollten, entweder einzeln oder gemeinsam, je nachdem, was Kate für richtig hielt - obwohl »Apartments« für die Unterkünfte im Stallgebäude eigentlich zu geräumig klang. Er fragte sich, wie sie wohl zurechtkamen, wenn sie miteinander allein waren. Kate hatte bestimmt keine Schwierigkeiten, mit einem männlichen Untergebenen klarzukommen, der offensichtlich hoch intelligent und noch dazu attraktiv war, er arbeitete jedoch inzwischen lange genug mit ihr zusammen, um zu spüren, dass Benton sie mit seiner Oxford-Bildung kombiniert mit unverhohlenem Ehrgeiz nervös machte. Benton war bestimmt peinlich korrekt, dennoch würde Kate nicht entgangen sein, dass in seinen dunklen und wachsamen Augen sowohl die Bereitschaft lag, seine Vorgesetzten zu kritisieren, als auch ein vorsichtiges Taxieren der eigenen Chancen.
Mrs. Burbridge hatte offensichtlich damit gerechnet, dass sie getrennt essen würden, es war kein zusätzliches Geschirr oder Besteck vorhanden, nur die drei Weingläser und Tassen verrieten ihre Vermutung, dass sie zumindest gemeinsam etwas trinken würden. Auf einem Zettel, der am Schrankregal klebte, stand: Bitte rufen Sie an, falls Sie etwas brauchen. Dalgliesh beschloss, eventuelle Bitten auf ein Minimum beschränkt zu halten. Falls er und seine Mitarbeiter einmal gemeinsam essen wollten, könnte alles Notwendige aus dem Stallgebäude hergebracht werden.
Das Abendessen war draußen neben der Tür unter dem Briefkasten abgestellt worden. An dem Metallbehälter hing ein Zettel mit der Aufschrift: Osso buco und Ofenkartoffeln bitte dreißig Minuten bei 160 Grad im Ofen aufwärmen. Crème brûlée im Kühlschrank.

W
ährend er die Anweisung befolgte und den Tisch deckte, dachte er leicht gequält darüber nach, wie eigentümlich seine Situation war. In den Jahren, seit er als Sergeant zur Kripo gekommen war, hatte er so manche Mahlzeit im Dienst eingenommen, hastig oder auch gemächlich, drinnen oder draußen, allein oder mit Kollegen, schmackhaft oder ungenießbar. Die meisten hatte er längst vergessen, doch einige wenige aus seiner Zeit als junger Detective Constable konnten noch immer die eine oder andere bohrende Erinnerung auslösen: der brutale Mord an einem Kind, den er absurderweise immer mit Käsebroten in Verbindung brachte. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 13.09.2006