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Was uns angeht, ist das leicht zu beantworten. Ich habe hier zu Abend gegessen, daher bin ich ihm nicht beim Dinner im Haus begegnet. Roughtwood hat mir meinen Morgentee um sechs Uhr dreißig gebracht und eine Stunde später das Frühstück serviert. Ich habe ihn erst wieder gesehen, als er ins Cottage kam, um das Frühstück abzuräumen und meine Silbersachen zu holen. Er wollte sie nebenan in seinem eigenen Cottage putzen, weil ich den Geruch der Politur nicht vertrage.«
Der Zierrat auf dem kleinen runden Tisch rechts vom Kamin blitzte tatsächlich, was allerdings nicht unbedingt bedeuten musste, dass die Sachen kürzlich poliert worden waren. Kate vermutete, dass sie immer makellos waren - wahrscheinlich hätte ein leichtes Abreiben mit einem weichen Tuch genügt, um den Glanz hervorzubringen.
»Und wann war das, Miss Holcombe?«
»Das kann ich nicht genau sagen. Da ich nicht vorhersehen konnte, in eine Morduntersuchung verwickelt zu werden, habe ich kein Protokoll geführt. Ich denke, es war irgendwann zwischen acht Uhr fünfzehn und acht Uhr dreißig. Ich war gerade auf der Terrasse und die Wohnzimmertür stand offen. Ich habe ihn gehört, aber nicht gesehen.«

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ate wandte sich an Roughtwood. »Können Sie präzisere Angaben machen, Mr. Roughtwood?«
»Ich würde eher sagen acht Uhr fünfzehn, Inspector, doch ich habe ebenfalls nicht auf die Uhrzeit geachtet.«
Miss Holcombe sprach weiter. »Ich bin Roughtwood erst gegen neun Uhr wieder begegnet, als ich auf dem Weg in die Praxis bei ihm hereingeschaut habe, wo ich mich gegen Grippe impfen lassen wollte.«
Kate sagte: »Und ehe Sie, Miss Holcombe, zur Praxis gegangen sind, war keiner von Ihnen an dem Morgen draußen.«
»Ich jedenfalls nicht, außer auf meiner Terrasse. Sie antworten lieber selbst, Roughtwood.«
»Ich bin in meinem Cottage geblieben, Inspector, in der Küche, und habe das Silber geputzt. Kurz nachdem Madam gegangen war, klingelte mein Telefon. Mr. Boyde teilte mir mit, Mr. Oliver werde vermisst, und bat mich, bei der Suche zu helfen.«
Benton-Smith fragte: »Und Sie haben nicht mitgeholfen?«
»Nein. Ich wollte erst meine Arbeit erledigen, und ich fand, dass die Sache nicht so eilig sein konnte. Es würden genug da sein, um nach Mr. Oliver zu suchen. Gäste auf der Insel machen gerne lange Spaziergänge, und sie rechnen nicht damit, dass Leute sie verfolgen. Ich konnte die ganze Aufregung nicht nachvollziehen. Außerdem arbeite ich für Madam, nicht für Mr. Boyde oder das Haupthaus.«
Kate sagte: »Aber später sind Sie dann doch zum Leuchtturm gegangen.«
»Ja, nachdem Madam zurückgekommen war und mir erzählt hatte, dass Mr. Oliver tot aufgefunden worden war. Madam bat mich, zum Leuchtturm zu laufen und festzustellen, ob ich irgendwas tun könnte. Ich kam gerade rechtzeitig dort an, um bei der Trage mit anzufassen.«
Kate fragte: »Hätten Sie gemerkt, wenn der jeweils andere heute Morgen sein Cottage verlassen hätte?«

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iss Holcombe antwortete: »Nicht unbedingt. Wir führen ziemlich unabhängige Leben. Sie sagen, Oliver wurde zuletzt um sieben Uhr zwanzig gesehen, als er Peregrine Cottage verließ. Bis zum Leuchtturm könnte er ungefähr fünfzehn Minuten gebraucht haben. Falls Roughtwood um acht Uhr am Leuchtturm gewesen wäre, um ihn zu ermorden - das wollen Sie ja wohl andeuten -, wäre er kaum um halb neun wieder hier gewesen, als er spätestens hereinkam, um das Silber zu holen. Wie Sie festgestellt haben werden, sind wir hier eine halbe Meile vom Haupthaus und nur unwesentlich weniger weit vom Leuchtturm entfernt.«
Benton-Smith fragte: »Mr. Roughtwood besitzt doch bestimmt ein Fahrrad?«
»Wollen Sie jetzt behaupten, dass er zum Leuchtturm hin und zurück geradelt ist? Wollen Sie auch andeuten, dass er mich auf dem Gepäckträger mitgenommen hat?«
Kate sagte: »Niemand will hier irgendwas andeuten, Miss Holcombe. Wir fragen, und das müssen wir, wo Sie zur betreffenden Zeit waren, und im Augenblick ist die Sache für uns ein ungeklärter Todesfall. Niemand hat etwas von Mord gesagt.«
»Sie werden sich natürlich schön hüten, das zu tun, aber auf dieser Insel leben keine Dummköpfe. Ein Commander, ein Detective Inspector und ein Sergeant von der Metropolitan Police werden wohl kaum mit dem Hubschrauber eingeflogen, um einen Selbstmord oder einen tödlichen Unglücksfall zu untersuchen. Schon gut, Sie sind mir keine Erklärungen schuldig. Ich weiß, ich werde keine bekommen. Falls Sie allerdings weitere Informationen benötigen, möchte ich sie lieber Commander Dalgliesh direkt geben. Wir sind nur eine begrenzte Anzahl von Verdächtigen auf der Insel, also kann er schlecht behaupten, er sei überarbeitet.«
Kate sagte: »Ich soll Ihnen ausrichten, dass er Sie später aufsuchen wird.«
»Bestellen Sie ihm einen schönen Gruß von mir. Falls er glaubt, dass ich ihm noch irgendwie behilflich sein kann, wäre es nett, wenn er anrufen würde. Dann könnten wir einen Termin vereinbaren, der uns beiden passt. Montagmorgen kann ich nicht, da ich einen Zahnarzttermin in Newquay habe. In der Zwischenzeit zeigt Roughtwood Ihnen sicherlich gerne sein Fahrrad. Und jetzt, Inspector, wäre ich Ihnen dankbar, wenn ich mein Wohnzimmer wieder für mich allein haben könnte.«

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as Rad stand in einem kleinen steinernen Anbau von Roughtwoods Cottage. Es war anscheinend früher mal ein Waschhaus gewesen, und der in Beton eingelassene Waschkessel war noch immer vorhanden. An einer Wand hingen Werkzeuge und Gartengeräte - mehr als man bei dem kleinen Streifen bepflanzten Bodens vor beiden Cottages erwartet hätte, fand Kate. Alles war sehr sauber und ordentlich. Das Fahrrad, ein altes und schweres Raleigh-Modell mit einem großen Weidenkorb vorn am Lenker, lehnte an der anderen Wand. Der Vorderreifen war platt.
Benton-Smith kniete sich hin und untersuchte den Reifen. Er sagte: »Sehen Sie, da ist ein scharfkantiger Riss, gut einen Zentimeter lang.«
Kate kauerte sich neben ihn. Es war eher unwahrscheinlich, dass dieser eine präzise Schnitt von einem Stein, einem Nagel, also etwas anderem als einem Messer verursacht worden war, aber sie sagte nichts dazu. Stattdessen fragte sie Roughtwood: »Wann ist das passiert?«
»Vor zwei Tagen, Inspector, als ich zum Haupthaus gefahren bin, um etwas Putzzeug zu holen.«
»Wissen Sie, was den Schaden verursacht hat?«
»Im Reifen steckte nichts. Ich habe angenommen, dass ich wahrscheinlich über einen spitzen Stein gefahren bin.«

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ate überlegte kurz, ob es ratsam war, das Fahrrad als mögliches Beweismittel mitzunehmen, und entschied sich dann dagegen. Es würde wohl kaum verschwinden, und in dieser Phase der Ermittlung war Roughtwood - oder sonst jemand, um ehrlich zu sein - kein Hauptverdächtiger. Sie konnte sich die Reaktion auf der Insel ausmalen, wenn Benton-Smith das Fahrrad davonschob. Jetzt haben die das alte Fahrrad vom guten Roughtwood mitgenommen. Weiß der Himmel, was als Nächstes kommt. Sie dankte Roughtwood noch kurz für seine Mithilfe und verabschiedete sich.
Einige Minuten wanderten sie schweigend dahin, bis Kate sagte: »Ich wusste gar nicht, dass Sie so ein Scrabble-Experte sind. Das hätten Sie in Ihrem Lebenslauf erwähnen sollen. Gibt es noch andere Talente, die Sie uns verschwiegen haben?«
Seine Stimme war ausdruckslos. »Im Augenblick fallen mir keine ein, MaÕam. Ich hab schon als Junge mit meiner Großmutter Scrabble gespielt. Der englischen.«
»Ach so, jedenfalls gut, dass Sie es sich nicht verkneifen konnten, ein wenig anzugeben. So war die Partie wenigstens schnell zu Ende. Sie hat uns nicht ernst genommen, und er auch nicht, und sie haben es uns spüren lassen. Das reinste Theater. Immerhin, wir haben erfahren, was wir in Erfahrung bringen sollten, nämlich wo sie von halb acht Uhr heute Morgen an waren. Was Mr. Dalgliesh sonst noch wissen muss, wird er sie selbst fragen müssen. Bei ihm werden sie nicht so eine Nummer abziehen. Was halten Sie von ihr?«
»Als Verdächtige?«
»Warum waren wir sonst da? Das war schließlich kein Anstandsbesuch.«
Also würden sie doch wie Kollegen über den Fall diskutieren.

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ach einer kurzen Pause sagte Benton: »Ich glaube, sie würde ziemlich skrupellos vorgehen, wenn sie jemanden ermorden wollte. Und ich glaube nicht, dass sie hinterher groß unter Schuldgefühlen leiden würde. Aber was hätte sie für ein Motiv?«
»Nach Aussage von Miranda Oliver war ihr Vater wild entschlossen, Miss Holcombe aus ihrem Cottage zu verdrängen.«
»Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass es ihm gelungen wäre. Sie ist eine Holcombe, der Stiftungsrat wäre auf ihrer Seite. Und sie ist doch schon achtzig, oder? Wahrscheinlich würde sie die Treppen im Leuchtturm noch schaffen, und sie scheint mir ziemlich zäh für ihr Alter, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie die Kraft hätte, Olivers Körper über das Geländer zu hieven oder ihn vom Stockwerk darunter hochzutragen. Ich vermute nämlich, dass er da gestorben ist. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 12.09.2006