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Zu ihrem schwarz-grau-weiß karierten weiten Rock und dem weißen Rollkragenpullover trug sie eine schwere Bernsteinkette mit Steinen so groß wie Murmeln. Schön gearbeitete Bernsteinohrringe zierten die langen Ohrläppchen. Sie machte eine dezente Handbewegung in Roughtwoods Richtung, und er setzte sich ihr gegenüber, dann fixierte sie ihn kurz, als wollte sie sich vergewissern, dass er sich nicht mehr von der Stelle rührte.
Sie wandte sich an Kate. »Wie Sie sehen, Inspector, beenden wir gerade unsere samstägliche Scrabble-Partie. Ich bin an der Reihe, und ich habe noch sieben Buchstaben übrig. Mein Gegner hat - wie viele haben Sie noch, Roughtwood?«
»Vier, Madam.«
»Und der Beutel ist leer, wir werden also nicht mehr lange brauchen. Bitte nehmen Sie Platz. Ich habe so das Gefühl, dass ich auf meinem Bänkchen ein Wort mit sieben Buchstaben habe, aber ich komme nicht drauf. Zu viele Vokale. Ein O, zwei I und ein E. Zwei S und ein M sind die einzigen Konsonanten. Es ist ungewöhnlich, am Ende des Spiels so viele übrig zu haben, doch ich habe gerade erst einen gezogen.«
Schweigen trat ein, während Miss Holcombe ihre Steine beäugte und sie auf dem Bänkchen umsortierte. Die Gelenke der schlanken Finger waren von Arthritis geschwollen, und auf den Handrücken standen die Venen hervor wie lila Stränge.
Benton-Smith sagte leise: »MEIOSIS, Madam. Die dritte Reihe von rechts oben.«
Sie wandte sich zu ihm um.

E
r fasste die fragend hochgezogenen Augenbrauen als Einladung auf und trat näher an das Spielbrett heran. »Wenn Sie die Steine so setzen, dass das zweite S auf dem doppelten Wortwertfeld über AMEN liegt, bekommen Sie noch mal vierzehn Punkte für SAMEN. Das M ist dann auf dem doppelten Buchstabenwert für sechs, und das Wort mit sieben Buchstaben wird auch doppelt gewertet.«
Miss Holcombe konnte erstaunlich schnell Kopfrechnen. »Insgesamt sechsundneunzig plus meine zweihundertdreiundfünfzig.« Sie lächelte Roughtwood an. »Ich denke, damit ist das Ergebnis über jeden Zweifel erhaben. Ziehen Sie Ihre vier ab, Roughtwood, wie viel haben Sie dann?«
»Zweihundertneununddreißig, Madam, aber ich möchte Einspruch erheben. Wir haben nie vereinbart, dass Hilfe zulässig ist.«
»Das Gegenteil haben wir auch nicht vereinbart. Wir spielen schließlich nach unseren eigenen Regeln. Erlaubt ist, was nicht verboten ist. Das entspricht dem vernünftigen britischen Rechtsgrundsatz, dass alles zulässig ist, was nicht gesetzlich untersagt wurde, im Gegensatz zu den Gepflogenheiten auf dem europäischen Festland, nach denen nur das erlaubt ist, was gesetzlich sanktioniert wurde.«
»Meiner Ansicht nach hat der Sergeant bei der Partie kein Mitspracherecht, Madam. Niemand hat ihn gebeten, sich einzumischen.«

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iss Holcombe schien zu ahnen, dass das Gespräch auf eine unangenehme Konfrontation hinauslief. Sie begann, ihre Steine einzusammeln und in den Beutel zu werfen. »Also schön, dann nehmen wir eben den letzten Spielstand. Gewonnen habe ich trotzdem.«
»Madam, mir wäre es lieber, wenn die Partie für ungültig erklärt und nicht in die monatliche Statistik aufgenommen würde.«
»Meinetwegen. Was stellen Sie sich heute so an. Sie halten es offenbar für ausgeschlossen, dass ich auch ohne den Sergeant auf das Wort gekommen wäre. Ich war ganz nah dran.«
Roughtwoods Schweigen sprach Bände. Er wiederholte: »Der Sergeant hatte kein Recht, sich einzumischen. Wir sollten eine neue Regel aufstellen. Keine fremde Hilfe.«
Benton-Smith wandte sich an Miss Holcombe. »Es tut mir Leid, aber Sie wissen ja, wie das bei Scrabble ist. Fällt einem ein Wort mit sieben Buchstaben ein, kann man unmöglich den Mund halten.«
Miss Holcombe schien beschlossen zu haben, sich auf die Seite ihres Butlers zu schlagen. »Ein disziplinierterer Kopf würde es wenigstens versuchen, wenn man selbst nicht mitspielt. Nun denn, damit ist der Wettkampf vorzeitig beendet, und genau das hatten Sie zweifellos im Sinn. Normalerweise trinken wir nach dem Scrabble ein Glas Wein. Ich vermute, es hat keinen Sinn, Ihnen eins anzubieten. Gibt es nicht irgendeine Vorschrift, die es Ihnen untersagt, mit Verdächtigen etwas zu trinken? Ich will Sie nicht in eine peinliche Lage bringen. Falls Mr. Dalgliesh in diesem Punkt pingelig ist, wird sein Aufenthalt auf Combe allerdings recht ungemütlich werden: Wir sind stolz auf unseren Weinkeller. Nun, ich denke, Sie haben beide nichts gegen eine Tasse Kaffee einzuwenden.«
Kate nahm das Angebot an. Jetzt, da Hoffnung bestand, dass sie tatsächlich mit der Befragung anfangen konnten, hatte sie es nicht eilig. Miss Holcombe konnte wohl kaum behaupten, dass sie ihre Gastfreundschaft überstrapazierten, wenn sie in Ruhe ihren Kaffee tranken.
Als Roughtwood verschwand, war ihm kein Groll anzumerken. Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, sagte Miss Holcombe: »Da Roughtwood und ich uns wahrscheinlich gegenseitig ein Alibi geben werden, sollten wir eventuelle Fragen lieber verschieben, bis er wieder hier ist. Auf diese Weise sparen wir alle Zeit. Während Sie auf den Kaffee warten, können Sie gern auf die Terrasse gehen. Die Aussicht ist hinreißend.«

S
ie sammelte weiter die Scrabble-Steinchen ein, ohne Anstalten zu machen, sie nach draußen zu begleiten. Kate und Benton standen auf. Die obere Hälfte der Terrassentür war aus Glas, doch die Tür war schwer, die Scheibe offensichtlich dick. Es kostete Benton einige Anstrengung, sie aufzuziehen. Die eigentliche Tür hatte Halterungen für Fensterläden, und Kate fiel auf, dass alle vier Fenster hölzerne Läden hatten. Der Klippenrand hinter einer hüfthohen Steinmauer war keine anderthalb Meter entfernt. Das Rauschen des Ozeans dröhnte ihnen in den Ohren. Instinktiv wich Kate erst einen Schritt zurück, ehe sie an die Mauer trat und hinüberspähte. Tief unter ihnen stieg die Gischt in einem weißen Nebel auf, und Wellen brachen sich mit lautem Donnern an der Klippenwand.
Benton-Smith stellte sich neben sie. Er schrie gegen die Brandung an. »Das ist herrlich. Nichts mehr zwischen uns und Amerika. Kein Wunder, dass Oliver das Haus haben wollte.«

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ate hörte die Ehrfurcht in seiner Stimme, antwortete aber nicht. Ihre Gedanken wanderten zu dem fernen Londoner Fluss unter ihrem Fenster, der kräftigen, braunen, pulsierenden Themse, auf deren Oberfläche die gespiegelten Lichter der Stadt funkelten. Manchmal schien die Strömung so träge wie ein schlammiger Teich, doch wenn Kate über das Wasser blickte, erfasste sie zuweilen ein Schaudern, und sie stellte sich dessen latente Kraft vor, wie diese zum Leben erwachte, die Stadt davonspülte und auf ihrer wirbelnden Oberfläche die Trümmer von Kates Apartment mitriss. So ganz abwegig war diese Fantasie gar nicht. Wenn die Polkappen wirklich abschmolzen, würde nicht viel vom ufernahen London übrig bleiben. Mit dem Gedanken an ihre Wohnung kam auch die Erinnerung an Piers, das von seinem Körper gewärmte Bett, seine Hand, die am Morgen nach ihr griff. Was, so fragte sie sich, mochte er jetzt wohl gerade machen? Wie viel von dieser gemeinsamen Nacht war geplant gewesen? Nahm sie in seinem Kopf ebenso viel Raum ein wie er in ihrem? Bedauerte er, was geschehen war, oder war sie für ihn nur die jüngste in einer langen Reihe von Eroberungen? Entschlossen schob sie den unangenehmen Gedanken beiseite. Hier, wo das Cottage wie aus der Granitklippe gewachsen schien, spürte sie eine andere Kraft, unendlich viel stärker und potentiell weit gefährlicher als die Themse. Wie eigenartig, dass der Fluss und dieser Ozean dasselbe Element teilten, denselben salzigen Geschmack auf der Zunge, denselben würzigen Geruch. Ein kleiner Gischttropfen landete auf ihrer Wange und trocknete, ehe sie die Hand heben konnte, um ihn wegzuwischen.

M
inuten vergingen, dann, als wäre ihnen beiden gleichzeitig eingefallen, dass sie aus einem bestimmten Grund gekommen waren, begaben sie sich wieder in das Cottage. Sogleich wurde die Wildheit von Wind und Meer gedämpft. Friedliche Behaglichkeit und der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee umgaben sie. Der Scrabble-Tisch war weggeräumt worden. Roughtwood stellte sich neben die Terrassentür, als wollte er weitere Erkundungen unterbinden, und Miss Holcombe saß noch immer in ihrem Sessel, jetzt jedoch ihnen zugewandt.
Sie begann: »Sie werden feststellen, dass das Sofa recht bequem ist. Ich glaube nicht, dass das Ganze mehr als ein paar Minuten in Anspruch nehmen wird. Sie möchten bestimmt wissen, was wir während der Zeit getan haben, in der Nathan Oliver vermutlich gestorben ist. Um wie viel Uhr war das?«
Kate sagte: »Genau können wir das noch nicht sagen, aber unseren bisherigen Informationen zufolge hat er Peregrine Cottage heute Morgen gegen zwanzig nach sieben verlassen. Um neun Uhr hatte er in der Praxis einen Termin zur Blutabnahme, zu dem er nicht erschien.Das wissen Sie alles bereits. Für uns ist der Zeitraum zwischen dem Moment, an dem er gestern Abend zuletzt gesehen wurde, und zehn Uhr heute Morgen von Interesse, als die Leiche entdeckt wurde.« (wird fortgesetzt)

Artikel vom 11.09.2006