08.09.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Mrs. Burbridge fing Dalglieshs Blick auf und verkniff sich ihre Bemerkung. Millie stand jetzt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Dalgliesh sah ihr an, dass ihr der ungewohnte Rummel um ihre Person allmählich Spaß machte. Er hoffte nur, dass sie der Versuchung widerstand, das Ganze unnötig auszuschlachten.
Sie beugte sich mit leuchtenden Augen vor und blickte in die Runde. »Ich hab mich auf der Klippe hinter der Kapelle gesonnt. Da ist Õne Mulde im Gras und reichlich Gebüsch, deshalb ist man da ungestört. Jedenfalls geht da nie einer hin. Und wenn doch, würdÕs mich auch nicht stören. Also, wie gesagt, ich hab mich gesonnt. Da ist doch nix dabei.«
Mrs. Burbridge sagte: »In deinem Badeanzug?«
»Wieso Badeanzug? In nichts. Ich hab auf einem Handtuch gelegen. Ich lieg also einfach so da in der Sonne. Es war mein freier Nachmittag, also muss das ein Donnerstag gewesen sein. Ich wär gerne nach Pentworthy gefahren, aber Jago wollt nicht mit der Barkasse raus. Jedenfalls, wie ich da so liege, hör ich auf einmal ein Geräusch. So Õne Art Aufschrei - na ja, eher ein Stöhnen. Ich dachte, es wär irgendein Tier. Ich mach die Augen auf, und da steht er vor mir. Ich hab aufgeschrien und das Handtuch genommen und es um mich gewickelt. Er sah furchtbar aus. Ich dachte, der kippt um, so weiß war er. Ich hab noch nie Õnen Mann erlebt, der so verängstigt aussah. Er hat sich entschuldigt und gefragt, ob mit mir alles in Ordnung ist. Klar, war mit mir alles in Ordnung. Ich hatte nicht richtig Angst, nicht so wie er. Deshalb hab ich gesagt, er sollte sich lieber hinsetzen, dann würdÕs ihm besser gehen, und das hat er gemacht. Es war echt komisch. Dann hat er gesagt, es tät ihm Leid, dass er mich erschreckt hat, und dass er gedacht hat, ich wär jemand anderes, ein Mädchen, das er mal gekannt hat und das genau wie ich in der Sonne lag, an einem Strand. Und ich hab gefragt: ÝHat sie Ihnen gefallen?Ü, und er hat was total Komisches gesagt, irgendwas von einem anderen Land und dass das Mädchen tot wär, bloß er hat nicht Mädchen gesagt.«

D
algliesh wurde klar, dass Millie die perfekte Zeugin war, einer der wenigen Menschen mit einem beinahe absoluten Gedächtnis. »Er hat gesagt: ÝDoch das war in einem andern Land, und außerdem: das Weib ist tot.Ü«
»Ja, genau. Irre, dass Sie das wissen. Klingt komisch, nicht? Ich dachte, er hätte sich das bloß ausgedacht.«
»Nein, Millie, der Mann, der sich das ausgedacht hat, ist schon über vierhundert Jahre tot.«
Millie stockte, dachte stirnrunzelnd darüber nach.
Dalgliesh sagte freundlich auffordernd: »Und dann?«
»Ich hab gesagt, woher er denn weiß, dass sie tot ist, und er hat gesagt, wenn sie nicht tot wäre, würde er nicht von ihr träumen. Er hat gesagt, die Lebenden kämen nie im Traum zu ihm, nur die Toten. Ich hab gefragt, wie sie hieß, und er hat gesagt, das wüsste er nicht mehr und vielleicht hätte sie es ihm auch nie verraten. Er hat gesagt, der Name wär egal. Er hat sie Donna genannt, aber das war in einem Buch.«
»Und wie ging es weiter?«
»Na ja, wir haben uns unterhalten. Hauptsächlich über mich. Wieso ich auf der Insel bin. Er hatte ein Notizbuch dabei, und manchmal, wenn ich was gesagt hab, hat er das aufgeschrieben.« Sie warf Mrs. Burbridge einen wütenden Blick zu. »Da hatte ich mir aber schon meine Sachen angezogen.«

M
rs. Burbridge sah aus, als läge ihr die Bemerkung auf der Zunge, die Sachen hätten besser erst gar nicht ausgezogen werden sollen, doch sie schwieg.
Millie erzählte weiter. »Tja, danach sind wir aufgestanden, und ich bin zurück zum Haupthaus gegangen. Da hat er gesagt, wir könnten uns doch vielleicht noch mal treffen und miteinander reden. Und das haben wir gemacht. Er hat meist frühmorgens angerufen und Bescheid gesagt, wo wir uns treffen wollten. Ich hab ihn gemocht. Er hat mir ein paar Sachen erzählt, was er so auf Reisen gemacht hat. Er war schon überall auf der Welt. Er hat gesagt, er hat Leute getroffen und gelernt, wie man Schriftsteller wird. Manchmal hat er auch nicht viel gesagt, dann sind wir einfach spazieren gegangen.«
Dalgliesh fragte: »Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen, Millie?«
»Donnerstag. Donnerstagnachmittag.«
»Und was für einen Eindruck hat er da gemacht?«
»Wie immer.«
»Worüber hat er gesprochen?«
»Er hat mich gefragt, ob ich glücklich bin. Und ich hab gesagt, mir gehtÕs gut. Außer wenn ich unglücklich bin, so wie, als sie Gran abgeholt und ins Heim gesteckt haben oder als meine Katze Slipper gestorben ist - die hatte weiße Pfötchen - und wenn Jago nicht mit mir Boot fahren will und Mrs. Burbridge mich wegen der Wäsche fertig macht. So Sachen. Er hat gesagt, bei ihm wärÕs genau umgekehrt. Er wär die meiste Zeit unglücklich. Er hat sich nach Gran erkundigt, wann sie angefangen hat, Alzheimer zu kriegen, und ich habÕs ihm erzählt. Er hat gesagt, jeder, der alt ist, hat Horror davor, Alzheimer zu kriegen. Dass die Krankheit einem Menschen die größte Macht raubt, die er hat. Er hat gesagt, das ist eine Macht, die so groß ist, wie ein Tyrann oder Gott sie hat. Wir könnten unser eigener Henker sein.«
Es wurde mucksmäuschenstill.
Dalgliesh nickte. »Sie haben uns sehr geholfen. Gibt es sonst noch etwas, was Sie uns über Mr. Oliver erzählen können?«
»Nee, mehr nicht.« Millies Stimme klang plötzlich streitlustig. »Ich hätt Ihnen das nicht erzählt, wenn Sie mich nicht gezwungen hätten. Ich hab ihn gemocht. Er war mein Freund. Ich bin die Einzige, der es was ausmacht, dass er tot ist. Ich bleib nicht mehr länger hier.«

T
ränen standen ihr in den Augen. Sie stand auf, und auch Mrs. Burbridge erhob sich und warf Dalgliesh einen vorwurfsvollen Blick über die Schulter zu, während sie Millie sachte aus dem Zimmer bugsierte.
Maycroft meldete sich zum ersten Mal zu Wort. »Das ändert ja wohl alles. Es muss Selbstmord gewesen sein. Für die Druckspuren am Hals gibt es bestimmt eine plausible Erklärung. Entweder er hat sie sich selbst beigebracht oder irgendwer nach seinem Tod. Irgendjemand, der wollte, dass es wie Mord aussieht.«
Dalgliesh sagte nichts.
»Aber seine Unzufriedenheit, das Verbrennen der Druckfahnen É«
Dalgliesh warf ein: »Ich werde morgen Gewissheit haben, allerdings glaube ich nicht, dass Millies Aussage diese beruhigenden Rückschlüsse erlaubt.«
Maycroft fing an, die Stühle an ihren ursprünglichen Platz zu stellen. »Oliver hat sie natürlich benutzt. Er hätte sich niemals mit Millie getroffen, nur weil er die Konversation mit ihr so anregend fand.«

D
och genau darum war es ihm gegangen: ihre Konversation. Falls er vorgehabt hatte, in seinem nächsten Roman eine fiktionale Millie zu erschaffen, dann hätte er ihren Charakter bestimmt besser gekannt als seinen eigenen. Er hätte gewusst, was sie fühlte und was sie dachte. Was er noch wissen musste, war, wie sie diese Gedanken in Worte kleidete.
Sie waren schon im Fahrstuhl, als Kate sagte: »Von dem Zeitpunkt an, als Millie wieder auf ihrem Zimmer war, bis zu dem Moment, als sie den Umschlag in den Briefkasten am Peregrine Cottage steckte, hätte also jeder die Nachricht lesen können.«
Benton wandte ein: »Entschuldigen Sie, aber wer hätte denn überhaupt von dem Brief wissen können? Aus purer Neugier schaut doch wohl keiner in den Postsack. Schließlich war nicht davon auszugehen, dass da etwas Wertvolles drin war.«
Dalgliesh sagte: »Wir müssen jedenfalls die Möglichkeit in Betracht ziehen. Wir wissen, dass Jago mit Sicherheit von der Verabredung um acht Uhr wusste, und dass auch Miranda und Tremlett durchaus davon gewusst haben können, ebenso wie jeder, der den Wagen da unbeaufsichtigt hat stehen sehen. Ich kann mir vorstellen, warum Jago nichts gesagt hat: Er wollte Millie schützen. Aber falls die beiden anderen den Brief gefunden und gelesen haben, warum haben sie dann nichts gesagt? Möglicherweise hat Oliver erst heute Morgen bei Verlassen des Cottage in seinen Briefkasten geschaut. Vielleicht wollte er so früh nur einen Spaziergang machen, um seiner Tochter aus dem Weg zu gehen. Und nachdem er Speidels Brief gelesen hatte, änderte er seine Pläne und beschloss, gleich zum Leuchtturm zu gehen.«

K
aum waren sie im Seal Cottage angekommen, riefen sie im Peregrine Cottage an. Miranda Oliver meldete sich. Sie sagte, sie habe am Vortag nicht gehört, dass der Wagen vor dem Haus gehalten hatte, allerdings fuhr er sowieso nie bis direkt vor die Tür, weil der Pfad zu schmal war. Daher wunderte sie das auch nicht weiter. Weder sie noch Mr. Tremlett hatten in den Briefkasten geschaut, und keiner von ihnen hätte einen Brief geöffnet, der an ihren Vater adressiert war.
Kate und Benton machten sich sofort auf zum Hafen, um Jago zu befragen. Er war gerade dabei, die welken Blätter von den Geranien in sechs Terrakottatöpfen vor dem Harbour Cottage zu zupfen. Die Pflanzen waren ins Kraut geschossen und die Stängel verholzt, doch die meisten Blätter waren noch grün, und an den überlangen Trieben vermittelten ein paar kleine Blüten die Illusion von Sommer.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 08.09.2006